Ludwig und Friedrich Feuerbach

Werner Schuffenhauer (Berlin)

Ludwig Feuerbach stellt des Bruders Schrift
"Gedanken und Thatsachen", 1862, vor.1

Vorbemerkung

In dem von Ludwig Feuerbach redigierten Artikel "Paul Johann Anselm von Feuerbach und seine Söhne" in Wigands "Conversationslexikon. Für alle Stände.", Bd. 5. Leipzig 1847 (vgl. GW 10, S. 331 f.), lautet es über seinen jüngeren Bruder Friedrich Heinrich: "Friedrich F., geb. den 29. Sept. 1806, studierte in Erlangen, Bonn und Paris Sanskrit. Die Cholera, deren Opfer er beinahe in Paris (1832) geworden wäre, unterbrach aber seinen Studien- und Lebensplan. Gerettet, doch jahrlang noch leidend, beschäftigte er sich nur mit der französischen, italienischen, spanischen Sprache und Literatur. Er hat sich bekannt gemacht durch prosaische und metrische Übersetzungen aus allen diesen Sprachen, selbst aus dem Sanskrit, außerdem durch mehrere kleinere Schriften über die Religion ‚innerhalb der Grenzen der bloßen Menschlichkeit‘. Er ist übrigens nichts weniger als ein Organ seines Bruders Ludwig, wofür ihn urteilslose Schreiber ausgeschrien haben. Er steht auf seinen eignen Beinen. Schon 1838 schrieb er eine anonyme Schrift ‚Theanthropos‘, welche nur in der Selbsttätigkeit das Heil des Menschen erkennt. Er privatisiert in Nürnberg." Ein späterer Beitrag (im Brockhausschen Konversationslexikon, 10. Auflage von 1852, Bd. 6.), der ebenfalls von Ludwig Feuerbach redigiert wurde, ergänzt und aktualisiert die Angaben zum Bruder Friedrich: "Außer trefflichen metrischen Übersetzungen aus dem Sanskrit, [dem] Italienischen und Spanischen in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte er später die geschätzten populär-religionsphilosophischen Schriften ‚Theanthropos. [Eine Reihe von Aphorismen.]‘ (Zürich 1838) und ‚Religion der Zukunft‘ (Nürnb. und Bern 1843–1847)." (Vgl. GW 11, S. 7.) Die letztgenannte Schrift bestand aus mehreren Heften, die Zürich-Winterthur 1843, Zürich 1844 und Nürnberg 1845 herauskamen. Eine "für Leser aus dem Volke bearbeitetete" Auflage durch W. Marr erschien 1846 in Bern, die von konservativen deutschen Zeitschriften in Zusammenhang mit der Schrift Marrs "Das junge Deutschland in der Schweiz. Ein Beitrag zur Geschichte der geheimen Verbindungen unserer Tage", Leipzig 1846, zum Anlaß genommen wurde, die Brüder Feuerbach mit der "tollhäuslerischen" (L. Feuerbach), revoluzzerischen und maßlos-antireligiösen Propaganda dieser Kreise in Verbindung zu bringen (vgl. GW 19, S. 463). 1847 erschien in Bern "Die Kirche der Zukunft. Eine Reihe von Aphorismen", die wohl verbreitetste Schrift Friedrichs. Zu seinen frühen Veröffentlichungen gehört eine Neuübersetzung des berühmten Romans "Geschichte der Manon Lescaut und des Ritters Desgrieux" von Abbé Prévost (Paris 1731), eines Marksteins der frühen bürgerlich-sensualistischen Literatur und sozialpsychologischen Realistik in Frankreich ("Manon Lescaut von Abbé Prévost: Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Heinrich Feuerbach. Mit einer Charakteristik Prévosts und seiner Romane." Erlangen 1834, XVI, 408 S.). Schließlich sind noch zu nennen die 1862 in Hamburg bei O. Meißner (dem Verleger des Marxschen "Kapital", 1868) erschienen "Gedanken und Thatsachen. Ein Beitrag zur Verständigung über die wichtigsten Bedingungen des Menschenwohles" (106 S.). Zur Persönlichkeit Friedrich Feuerbachs haben vor allem G. Radbruch (Die Feuerbachs. Eine geistige Dynastie. In: Gestalten und Gedanken. Acht Studien. Leipzig 19442, S. 175 f.), Th. Spoerri (Genie und Krankheit. Eine psychopathologische Untersuchung der Familie Feuerbach. Basel/NewYork 1952, S. 73-76 und, weiter ausgreifend, F. W. Kantzenbach (Im Schatten des Größeren. Friedrich Feuerbach, Bruder und Gesinnungsgefährte Ludwig Feuerbachs, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 57. Bd. Nürnberg 1970, S. 281-306) wesentliches mitgeteilt, wobei dessen äußerst zurückgezogene Lebensführung von ihnen eher mit einem inneren Hang zur Einsiedelei als mit Nachwirkungen der in Paris erlittenen schweren Erkrankung in Zusammenhang gebracht wird.

Ludwig Feuerbach pflegte stets enge Beziehungen und einen regen, gegenseitig befruchtenden Gedankenaustausch mit seinem jüngeren in Nürnberg wohnhaften Bruder, insbesondere auch seit er sich seit Ende September 1860 mit seiner Familie unmittelbar vor den (damaligen) Toren Nürnbergs am Fuße des Rechenbergs in einem Landhaus zur Miete niedergelassen hatte. Nach längerer Zeit des Schweigens nahezu nur noch in freireligiösen Kreisen bekannt veröffentlichte Friedrich Ende 1862 seine "Gedanken und Tatsachen ..." – eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich mutige kritische Schrift, die in aphoristischer Form und volkstümlicher Sprache versucht, die Summe einer allmählich herangereiften Lebensphilosophie zu vermitteln, die gänzlich diesseitig orientiert ist und sich den Interessen der einfachen Volksschichten, zutiefst menschenfreundlichen, humanistischen Strebungen verpflichtet weiß und den Grundauffassungen seines Bruders Ludwig, des großen Philosophen und Religionskritikers, sehr nahekommt. Ludwig Feuerbachs Wunsch, im Umkreis Nürnbergs auf die neueste Schrift seines Bruders aufmerksam zu machen und ebenso, wie er die Übereinstimmung mit dem Bruder unter Hervorhebung von dessen Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit in seiner Ankündigung im "Fränkischen Kurier (Mittelfränkische Zeitung.)", XXX. Jahrgang, Nr. 26-30, Nürnberg, 26.-30. Januar 1863 (jeweils am Fuße der Titelseite) zum Ausdruck bringt, entspricht den Intentionen der eingangs genannten Lexikon-Artikel. Die Ankündigung erfolgt anonym; Feuerbachs Autorschaft ist durch das in dieser Zeitung üblicherweise benutzte Korrespondentenzeichen belegt (vgl. W. Schuffenhauer, Neue Daten zum Corpus der Schriften Ludwig Feuerbachs, a. a. O., S. 783); sie lautet schlicht "Feuerbachs Gedanken und Thatsachen) ". In einführenden Bemerkungen bezieht sich der Autor auf eine wohl tatsächliche Begebenheit, vermutlich auf die wenige Monate zuvor in Nürnberg angestellten Nachforschungen nach dem Verbleib eines ausführlichen Briefs von Emma Herwegh, der nicht in seine Hände gelangt war (vgl. Emma Herwegh an Ludwig Feuerbach, 22. Juli 1862, Dichtermuseum Liestal, Schweiz, Herwegh-Archiv, Sign. BRH 900). Bei Vorsprache in einem Büro in Nürnberg löst der Name "Ludwig Feuerbach" beim angesprochenen Beamten keinerlei Aufhorchen aus. Erscheint dies nun hinsichtlich des weithin bekannten Philosophen als reiner Ausnahmefall, so bringt es die zurückgezogene Lebensweise Friedrichs zwangsläufig mit sich, daß ihn, der seit vielen Jahren in Nürnberg lebt, kaum jemand persönlich kennt, ganz zu schweigen davon, daß er weiß, daß dieser ein "an Geist und Gelehrsamkeit ebenbürtiger Bruder" des Philosophen ist – eine Aussage, durch die sich der ihm sehr zugetane Bruder als Autor verrät. Sehr zutreffend erscheint die Hervorhebung der "Freisinnigkeit" der neuen Schrift Friedrichs, ihrer Anstößigkeit für "Orthodoxe vom Fache", aber wohl etwas überhöht, das Lob der "Gewalt ihrer Logik".

Die kleine Schrift ist – neben Einleitung, Anmerkungen und Zusätzen – in 21 Themenkomplexe gegliedert: "Menschenliebe", "Die Sittenlehre", "Die Hauptquellen menschlichen Elendes", "Über Perfektibilität", "Über Erziehung", "Erkenne dich selbst", "Geist und Natur", "Die christliche Moral", "Der Reiche im Evangelium", "Der Spiritualismus des Christenthums", "Himmel und Hölle im Herzen der Menschen", "Einfluß der Lehre vom Himmel auf unser irdisches Wohl", "Die sittliche Bedeutung der Geschichte", "Der Christ und der Mann von Weltbildung", "Sitte und Lebensart", "Die Sprache", "Arm und Reich", "Volk und Regierung", "Der Regierungen beste Stütze", "Die Theologie", "Über Vorsehung und unmittelbares Eingreifen eines höchsten geistigen Wesens in das Menschenleben". In der "Ankündigung" werden eine Anzahl von Aphorismen aus den sieben Themenbereichen "Menschenliebe", "Sittenlehre", "Die Hauptquellen menschlichen Elends", "Der Spiritualismus des Christentums", "Himmel und Hölle im Herzen der Menschen", "Der Regierung beste Stütze" und "Über Vorsehung und unmittelbares Eingreifen eines höchst geistigen Wesens in das Menschenleben" vorgestellt. Im engeren Sinne philosophischen Fragen, etwa aus dem ansprechenden Komplex "Geist und Natur", werden Themen der unmittelbaren Lebenspraxis und sozialen Beziehungen, einer mensch- und vernunftgemäßen Staatsordnung und Gesetzgebung einschließlich geschichtlicher Erfahrungen vorgezogen, womit offenbar besonders ein mehr unabhängig vom Bruder kritisch bearbeitetes Terrain zur Geltung gebracht werden soll.

 

[Ludwig Feuerbach:]

[Friedrich] Feuerbachs "Gedanken und Tatsachen". [1863.]

"Wie heißen Sie?", fragte vor unlanger Zeit der Beamte eines öffentlichen Büros einen in Geschäftsangelegenheiten vor ihm stehenden, bescheiden auftretenden Mann mit geistreichem Gesichtsausdrucke. "Ludwig Feuerbach", war die Antwort. "Wie heißen Sie?", lautete wiederholt die Frage. "Ludwig Feuerbach." Weniger aus der wiederholten Frage − obwohl die Antwort deutlich genug gegeben ward − als aus der Entgegennahme derselben konnte ein unbeteiligter Augen- und Ohrenzeuge des kurzen Vorgangs mit Sicherheit erkennen, daß dem Fragesteller der Name des geistvollen Philosophen bisher ein Ding war, das für ihn nicht existierte. Wir wollen dem guten Manne darüber nicht gerade einen Vorwurf machen: seine Tagesbeschäftigung hat mit Philosophie und Philosophen verzweifelt wenig zu schaffen; immerhin aber glauben wir uns zu der Annahme berechtigt, daß derselbe auch in seinen Kreisen als desfallsiger know-nothing [Unwissender] ziemlich vereinzelt stehen dürfte. Weniger allgemeinbekannt dürfte indes der Name eines unserem Philosophen an Geist und Gelehrsamkeit ebenbürtigen Bruders desselben, des Sprachforschers Friedrich Feuerbach, sein, von dem − dank seines gar zu zurückgezogenen Lebens − wohl nur wenige unserer Mitbürger wissen, daß er gleichfalls mitten unter ihnen weilt, und der − wie mit seiner leiblichen Erscheinung − so auch mit den Produkten seines reichen Geistes gar zu selten vor die Öffentlichkeit tritt. Um so mehr sind wir demselben zu Dank verpflichtet für ein von ihm in der letzten Zeit erschienenes, zwar kleines, aber in jedem Worte schwer wiegendes Schriftchen, betitelt: "Gedanken und Tatsachen. Ein Beitrag zur Verständigung über die wichtigsten Bedingungen des Menschenwohles. Von Friedrich Feuerbach. Hamburg, Otto Meißner, 1862." Wenn − wie wir überzeugt sind − diese "Gedanken und Tatsachen" von allen "Freisinnigen" mit dem Gefühle inniger und freudiger Zustimmung aufgenommen werden, so dürften dieselben den "Orthodoxen" vom Fache durch die Gewalt ihrer Logik manche schwere Stunde bereiten und denselben Nüsse zu knacken vorlegen, die sie anders wohl nicht zu beseitigen vermögen, als durch ein Verschanzen hinter den, freilich manch unbequemen Einwurf rasch beseitigenden Ausspruch heiliger Schrift, daß die "Vernunft des Menschen gefangen genommen" werden müsse [2. Kor. 10. 5] und daß der "natürliche Mensch" nichts verstehe vom Geiste Gottes, er könne es nicht begreifen, denn es müsse "geistlich" gerichtet sein [1. Kor. 2. 14].

Zur Erbauung des freisinnigen Teiles unserer Leser, zur Anregung des Nachdenkens aller aber, denen samt und sonders wir Unbefangenheit genug zutrauen, daß ihnen auch solche geistige Kost zur Prüfung vorgelegt werden kann, die nicht durchaus mit ihren Anschauungen harmoniert − geben wir in Nachstehendem einige fragmentarische Sätze aus dem genannten geistreichen Werkchen.

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Sollte unter Menschenliebe eine persönliche und gemütliche Zuneigung zu allen Menschen zu verstehen sein, so kann man niemand dazu verpflichten; persönliche Zuneigung läßt sich überhaupt nicht gebieten, auch kann sie immer nur auf wenige sich beziehen. − Menschenliebe, vernünftig aufgefaßt, so aufgefaßt, wie man sie allerdings jedem zur Pflicht machen kann, heißt soviel als: Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte eines jeden sowie Anerkennung des Anspruchs eines jeden an mich, ihn nach Verhältnis meiner Kräfte und Mittel in allem, was landesgesetzlich erlaubt, zu fördern. Wer immer mit solchem Anspruch der andern an ihn vollkommen einverstanden, von dem Wunsche beseelt, durch seine Kenntnisse der Welt sich nützlich zu machen, etwa ausschließend den Wissenschaften, sei es auch in der tiefsten Zurückgezogenheit, sich widmet, der verdient den Namen eines Menschenfreundes sogut als derjenige, dessen Tätigkeit im großartigsten öffentlichen Wirkungskreise eben jenen Wunsch zum Haupthebel und Hauptbeweggrund all seines Strebens hat. Es kommt vor allem darauf an, daß der einzelne nicht allein für sich, sondern auch für andere denkt und arbeitet; es kommt weniger darauf an, daß er unter den Menschen, als viel mehr, daß er für sie lebt. [Vgl. "Gedanken und Thatsachen. ...", S. 3.]

Menschenliebe in dem eben ausgesprochenen Sinne gehört unbestreitbar zu den Heilsbedingungen der Menschheit; besteht sie aber in der gegenseitigen Mitwirkung bei dem Streben nach Glück und Wohlsein, und besteht dies Glück und Wohlsein vor allem – wie es ebenfalls nicht zu leugnen ist – in der Befriedigung der von Natur uns angeborenen Triebe sowie in der Ausbildung unserer natürlichen Kräfte und Anlagen: aus welcher Ansicht von der menschlichen Natur wird sich die Menschenliebe in unserem Sinne am besten entwickeln? Auf welchem Boden wird sie am besten gedeihen? – Der ihr zuträglichste Boden wird offenbar nicht der Glaube sein, daß die menschliche Natur durch und durch verderbt und nichtswürdig ist, sondern vielmehr die Ansicht, derzufolge wir dieselbe als die im wesentlichen und allgemeinen anzuerkennende Grundlage und Grundbedingung all unseres Seins, Fühlens, Denkens und Strebens betrachten, sie als eine berechtigte, legitime Macht gelten zu lassen.– Der Glaube, daß unsere Natur einer wesentlichen Umwandelung, einer künstlichen Versetzung und Einpfropfung in ein übermenschliches Wesen, eines, sozusagen, völligen Umsturzes und Abfalles von sich selbst bedürftig sei, mag echt-christlich sein, aber natur- und menschenfreundlich ist sie gewiß in geringerem Grade als die diesem Glauben entgegengesetzte, eben ausgesprochene Ansicht.– Die Menschenliebe muß, soll sie eine gesunde, in der Tat heilsame Liebe sein, auf der Überzeugung sich gründen, daß dem Streben der menschlichen Natur nach ihrer Befriedigung, Ausbildung und Reife in allgemeinen und wesentlichen zu willfahren ist sowie daß unser irdisches Leben an und für sich selbst seinen wohlberechtigten Zweck hat. [Ebenda, S. 4.]

Selbst krankhaft, aus krankhaften Gemütszuständen zum Teile wenigstens hervorgegangen und solche jedenfalls begünstigend, ist die Ansicht, daß unser ganzes Wesen durchteufelt, verkehrt und krankhaft sei und, soll es dem Verderben entgehen, so bald als möglich, durch das Bad der Taufe von Grund aus geheilt werden müsse. Die ursprüngliche Krankhaftigkeit unserer Natur auch angenommmen: wie bewährt sich denn das Heilmittel, das dafür helfen soll? Wenn wir die Augen aufmachen und uns umsehen nach den sittlichen Wirkungen der Taufe und der ganzen christlichen Heilsordnung: ist denn ein nennenswerter Unterschied hinsichtlich der sittlichen Zustände in der Christenheit und in der nichtchristlichen Welt, unter Juden und Heiden zu bemerken? [Ebenda, S. 4 f.]

Man kann weder der katholischen noch protestantischen Kirche den Vorwurf machen, daß sie etwa die gegenseitigen Pflichten der Menschen in Kanzelvorträgen und sonst ihren Gemeinden einzuschärfen versäume, aber diese Einschärfung muß sich notwendig dadurch bedeutend abstumpfen, daß denn doch in beiden der Gottesdienst, der Herrendienst eigentlich der Angelpunkt ist, um den sich alles dreht. Zudem hört man in beiden viel von der Gnade Gottes sprechen, von der alles abhängen soll, und es verlautet in ihnen kein Hilfgebet, das sich nicht an die Gnade des Himmels wende. Das Gemüt aber, das diese Vorstellung von Gottes Gnade einmal in sich aufgenommen hat, überredet sich von selbst gar leicht, daß von ihr jedenfalls mehr, als vom Wert oder Unwert der Gesinnungen und Handlungen, irdisches Glück und ewige Seligkeit abhänge. Und so kommt es, daß dem Christen die Pflichtenlehre als ein ziemlich unwesentliches Anhängsel des äußeren und inneren Gottesdienstes, mit einem Worte, der Religion erscheinen muß. [Ebenda, S. 7.]

[...] Sprecht von der göttlichen Gnade, in welcher Art Ihr wollt! Ihr könnt es nimmermehr verhindern, daß sie dem menschlichen Gemüte wie ein Glückshafen erscheine, daraus der Schlechteste sogut als der Beste ein glückliches Los zu ziehen hoffen darf. [Ebenda, S. 7 f.]

Nicht Irreligiosität, nicht der Unglauben an die Glaubenssatzungen der religiösen Gemeinschaften, in denen die Menschen zufällig geboren sind, nein!, Lieblosigkeit und Unverstand sind die zwei Hauptquellen alles Unheiles auf der Welt; durch sie werden die natürlichen, unvermeidlichen Übel meist erst bis zum Unerträglichen gesteigert; sie sind es, welche dem Unglück den bittersten Geschmack, den tötlich verwundenden Stachel verleihen; sie sind es, durch welche nicht selten die Fehler der Menschen ganz unverbesserlich gemacht, die daraus entstehenden Folgen bis ins Rettungslose verschlimmert werden.– Wo ein Unglück eingetreten ist oder wo es um den verhängnisvollen Fehltritt eines Menschen sich handelt, da denkt Liebe, mit Verstand gepaart, nur daran, zu retten, was noch zu retten ist, das Geschehene gut zu machen, den Gefallenen wieder aufzurichten: ein Verfahren, wodurch ein Unglück gar oft sogar in ein Glück sich verwandeln läßt, ein bedeutender Fehltritt der erste Schritt und Anstoß zu entschiedener Besserung werden kann. Lieblosigkeit und Unverstand hingegen beschränken sich in solchem Falle einzig darauf, ihre Wut an den wahren oder vermeintlichen Urhebern des Geschehenen auszulassen; darüber werden die etwa noch zu Gebote stehenden rettenden Maßregeln versäumt, und nichts wird dabei bezweckt als der Haß und Fluch der Gemißhandelten. [Ebenda, S. 12 f.]

Himmel und Hölle werden in der Christenheit bei der Erziehung der Jugend in Bewegung gesetzt und aufgeboten, um sie zum Guten anzutreiben und vom Bösen abzuschrecken. Die himmlischen Seligkeiten aber und die Qualen der Hölle, sofern beide vom Urteile des jüngsten Gerichts, das etwa erst nach vielen Millionen Jahren eintreten mag, abhängig sein sollen, können nur eine wenig nachhaltende Wirkung auf sie äußern. Man muß ihr vielmehr einschärfen, daß Tugend und Sittsamkeit die sichersten Gewährschaften für ihr Wohlergehen auf Erden sind, daß Laster und Verbrechen unmöglich auf die Länge der öffentlichen Rüge, der menschlichen Strafgerechtigkeit entgehen können.– Unmöglich, rufen mir alle christlichen Erzieher, Volkslehrer und Seelsorger zu, unmöglich lassen sich die jungen Leute und die ungebildete Volksmasse im Zaume halten ohne Himmel und Hölle. Ich erwidere ihnen, daß man auch in früheren Zeiten gar vieles für schlechterdings unentbehrlich zur Aufrechterhaltung der guten Sitten, der gesellschaftlichen Ruhe und Ordnung gehalten, gar vieles, was sich endlich nicht nur als sehr entbehrlich, sondern sogar als barbarisch, unsinnig, zweckwidrig erwiesen hat.– Man hat es noch zu Anfang vorigen Jahrhunderts in manchen Gegenden Deutschlands für eine der wichtigsten Aufgaben und Geschäfte der Gerichtsämter gehalten, Hexen und Hexenmeister auszuspähen und dem Henker zur Bestrafung auszuliefern. "Ohne Verfolgung der Hexen und Hexenmeister würde die ganze Welt dem Teufel in den Rachen fahren", schrie eine Unzahl von Theologen und Juristen, als hie und da warnende Stimmen gegen die Hexen-Prozedur sich vernehmen ließen.2 – Ein ähnlich Zetergeschrei erhob sich, als einsichtvolle und menschenfreundliche Rechtsgelehrte auf Abschaffung der Folter drangen. "Wie", schrie man, "wie ist ohne Folter das Geständnis eines Verbrechers herauszubringen? Ohne sie werden alle Verbrecher sich der Strafe zu entziehen wissen; die Welt wird eine Raubmörderhöhle; sie geht in Trümmer, wenn Ihr die Folterbank zertrümmert." – Viele Schullehrer hielten noch zu Anfange gegenwärtigen Jahrhunderts den Ochsenziemer für den nervus rerum [die Hauptsache] im Fache der Erziehungswissenschaft. Nur mit der größten Anstrengung war er den Händen dieser Schulmonarchen zu entwinden; Schulzucht und Sittsamkeit der Jugend schienen denselben fortan unmögliche Dinge, wenn er [der Ochsenziemer] nicht mehr, gleich Damokles‘ Schwert, beständig ob deren Häuptern schwebe.3 – Man verbrennt keine Hexen mehr; die Akten der Hexenrechtshändel, Folterbank und Ochsenziemer, die in den Augen so vieler ehedem hochwichtigen Gegenstände sind für immer in die Rumpelkammer mittelalterlicher Antiquitäten geworfen. Wem es einfiele, sie wieder zu Ehren zu bringen, der würde nicht einmal eines ernstlichen Widerspruchs gewürdigt werden; seine Wiederbelebungsversuche in dieser Beziehung würden höchstens dem gegenwärtigen Geschlechte ein mitleidiges Lächeln abzugewinnen vermögen. [Ebenda, S. 16-18.]

Zu den Saiten der christlichen Harfe, die in der frommen Literatur am liebsten angespielt werden, die so ziemlich ihren Grundton bilden, gehört auch die Vergänglichkeit des Irdischen und die Anpreisung der ewigen Seligkeit.– Die himmlischen Schätze werden weder von Motten, noch von Dieben bedroht; des Singens und Jubelns im Himmel ist kein Ende; die Schönheit der Engel ist vollkommen und unverwüstlich. Die Leiber der himmlischen Bewohner blühen in ewiger Gesundheit; ihre Häupter sind mit Kronen geschmückt, deren Perlenglanz in Ewigkeit nicht ermatten wird; beflügelt sind sie weniger an den Raum gebunden als auf Erden und prangen in ewig schneeweißen Gewanden.– Das Jenseits, wie es der Christ in seinem Innersten ersehnt, ist keineswegs eines wesentlich anderen Stoffes als das Diesseits: es ist nichts mehr und nichts weniger als das abgeklärte, von allem unangenehmen Beigeschmack freie, ohne alle Störung und Unterbrechung in Ewigkeit genossene Diesseits. [Ebenda, S. 34.]

Es ist wahr, der Christ hat selige Augenblicke, wenn er in seinem Verkehr mit Gott-Vater, Gott-Sohn oder der Mutter-Gottes oder den Heiligen sich der Gnade dieser himmlichen Wesen versichert fühlt; aber diese seligen Augenblicke sind eben nur Augenblicke; außerdem ist er bald mit sich selbst unzufrieden, indem er fürchtet, dem Himmel durch dieses oder jenes zu mißfallen oder mißfallen zu haben, bald ist er über den Himmel ungehalten, weil er auf die Bitten, mit denen er ihn bestürmt hat, gar keine Rücksicht nimmt, eine Unzufriedenheit, die sich manchmal wohl gar zu förmlicher Empörung steigert und bei leidenschaftlichen Menschen oft komisch genug sich äußert.– Ein Italiener, der mit seinen Heiligen sich überworfen hat, verwünscht sie einen um den andern – indem er jeden, mit einem beigefügten kräftigen Fluche, beim Namen nennt – in seine Mütze hinein, wirft diese auf den Boden und trampelt auf ihr herum, bis er seinen Zorn an diesem harmlosen Gegenstande ganz ausgelassen hat. Ein gebildeter Mann, der Italien bereist hat, versicherte mir, daß er Augenzeuge mehr als eines Auftrittes der Art gewesen sei.– Bekannt ist auch, was für greuliche Schimpfnamen das Volk in Neapel dem h[ei]l[igen] Januarius mit stampfenden Füßen und geballten Fäusten entgegenbrüllt, wenn er ihm zu lange zögert, sein geronnenes Blut, das alljährlich an seinem Festtage zu öffentlicher Schau ausgestellt wird, in Fluß zu versetzen.– Im Verhältnis der Gläubigen zu den himmlischen Gegenständen ihrer Verehrung ist also auch nicht lauter Sonnenschein; es geht eben auch her, wie in so manchem irdischen Haushalte, wo zärtliche und stürmische Szenen miteinander abwechseln. Ja, man sagt vielleicht nicht zuviel, wenn man behauptet, daß die eigentlichen und ungestümsten Himmelsstürmer nicht unter den Ungläubigen, sondern gerade unter den Gläubigen und Frommen zu suchen sind. [Ebenda, S. 41 f..]

Gesunde Ansichten der Dinge überhaupt, zuverlässige Gesinnung, feste Grundsätze im Verhältnisse des Volkes zur Regierung können sich nur ausbilden, wo man bei der Anschauung der Welt keine überirdischen Wesen und Absichten herbeizieht und einmengt, wo man alles nur vom natürlichen und menschlichen Gesichtspunkt aus zu betrachten gewohnt ist, wo das irdische Menschenwohl als Hauptaugenmerk vorwaltet.– Angenommen, eine Landesregierung sei gestürzt und eine andere Gewalt habe des Staatruders sich bemächtigt. Was habe ich als Christ zu tun? Nichts besseres, als die Anhänglichkeit an die frühere Ordnung der Dinge in mir zu unterdrücken, jedes Gelüsten nach Zurückführung derselben im Keime zu ertöten und der neuaufgegangenen Sonne in tiefster Ergebenheit zu huldigen und zu gehorsamen. Wenn ich so handele, kann niemand, vom christlichen Gesichtspunkt aus, mir die Eigenschaft eines guten Bürgers absprechen; denn, indem ich der Obrigkeit, gleichviel welcher, huldige und gehorsame, tue ich, was ich als Christ pflichtmäßig zu tun habe. Das Christentum schärft ja die Lehre ein: Jedermann unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt; denn es gilt keine Gewalt, außer von Gott; und die, welche besteht, ist von Gott angeordnet. Röm. 13, V. 1. – Seht da den treuen, ehrenfesten Bundesgenossen, welchen die Obrigkeiten im Gottesglauben, insbesondere im christlichen, haben! Solange sie bestehen, so ist er mit ihnen; sind sie gestürzt, so kehrt er ihnen den Rücken. Vae victis [Wehe den Besiegten]! – Christlicher Grundsatz ist es: Die Untertanen sind zum Gehorsam gegen die Obrigkeit verpflichtet, solange als sie besteht, "solange als Gott sie duldet".– Anders denkt, wer die Dinge nicht durch die himmelblau gefärbte Brille der Theologie, sondern mit seinen einfachen, natürlichen, menschlichen Augen ansieht. Ihm gilt der Grundsatz: Eine Regierung, die einmal durch unzweideutige Tatsachen bewiesen hat, daß sie von ihrem hohen Berufe erfüllt ist und diesem nachzukommen redlich sich beeifert, darf auf unwandelbare Treue des Volkes Anspruch machen; der Pflichtverband zwischen dem Volke und einer solchen Landesregierung ist ein unauflösliches Band. [Ebenda, S. 66 f.]

Wie jede Wissenschaft, die auf das menschliche Leben sich bezieht, so muß auch die Staatswissenschaft und -weisheit auf die Kenntnis, Anerkennung und Beachtung des ganzen Menschen, des menschlichen Wesens in der Fülle seiner geistigen, gemütlichen, leiblichen Kräfte, Anlagen und Bedürfnisse gegründet sein, insofern also auch den einmal vorhandenen religiösen Bedürfnissen des Volkes Rechnung tragen; aber was das religiöse, weder an Raum und Zeit, noch an die Gesetze der Denklehre, noch an die Ergebnisse der Erfahrung sich sonderlich bindende Gemüt erheischt, zu seinem obersten und vorherrschenden Endziele zu machen, das heißt offenbar den natürlichen Standpunkt des tatsächlichen, irdischen, gegenwärtigen Menschenlebens, von dem aus die Staatsgewalt die bürgerlichen Verhältnisse zu überschauen und zu leiten hat, in das Gebiet des Gefühles und der Einbildung hinüber verschieben und verrücken. Wo das der Fall ist, da wird das Volk zu einer dem geistlichen Krummstabe blindlings folgenden Herde, da wird der Staatsdiener zum Kirchendiener, der Minister zum Ministranten, da regiert nicht der Fürst, sondern sein Beichtvater, da gibt es keine wichtigere Angelegenheit, als den Glauben in der von der Kirche abgesteckten Grenze unverrückt zu erhalten, zugleich aber Herrschaft und Macht der Kirche ins Unendliche zu erweitern.– Ein klassisches Beispiel von dem Aberwitze, zu welchem eine für Gottes Ehre, Himmel und Heilige schwärmende Regierung herabsinken kann, liefert Portugals Geschichte unter Johann V., der im Jahre 1706 auf den Thron gelangte.– Merkwürdige Züge, welche Portugals damaligen Zustand kennzeichnen, enthält die Schrift [H. A.] Oppermanns: Pombal4 und die Jesuiten. [Hannover 1845.] Einer von diesen Zügen mag hier mitgeteilt sein. Nachdem Oppermann geschildert hat, wie es damals mit der portugiesischen Seemacht bestellt war, fährt er fort: "Noch trauriger war der Zustand der Landarmee. Nach dem Abgange des Marschalls Schomberg, dem Portugal in dem letzten Kriege mit Spanien seine Rettung verdankte, ward der heilige Antonius5 zum General der Armee ernannt. Se. Majestät der König ließ es sich nie nehmen, diesem tapfern Heiligen in höchst eigener Person die Marschallsgage in einem eigenhändig gearbeiteten rotseidenen Beutel zu bringen. Die Summe dieser Gage ist nicht bekannt, daß sie aber von den Pfaffen gut verwendet wurde, läßt sich nicht bezweifeln." [Ebenda, S. 69 f.]

Nachdem für das östreichische Heer unglücklichen Ausgang der Schlacht bei Magenta6 hielt bei Gelegenheit des Bibelfestes in einer bedeutenden Stadt Süddeutschlands ein als sehr frommer Christ bekannter Mann eine Ansprache an die Versammlung, in welcher er unter anderem äußerte, man sei mit Unrecht über Napoleon so entrüstet, er habe keine Schuld an dem gegenwärtigen Kriegsschrecken; er sei nur eine Strafrute in der Hand des Herrn, welcher die Menschen züchtige für ihren unchristlichen Sinn, insbesondere für ihre Teilnahmlosigkeit an der Bibelverbreitung.– Ich frage: Ist Napoleon, dieser christlichen Anschauung gemäß, als göttliches Strafwerkzeug zu betrachten, wo bleibt dann die Zurechnungsfähigkeit, die Verantwortlichkeit für seine Handlungen vor dem Richterstuhle des gegenwärtigen Jahrhunderts, vor dem Richterstuhle der Weltgeschichte? Wie sieht es dann aus mit der Wahrheit des Schillerschen Ausspruchs7: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht? Sind die großen Herren nur als Werkzeuge Gottes anzusehen, so steht ja der Weltgeschichte durchaus keine richtende Stimme über deren Handlungsweise zu; sie dürfte demzufolge nur erzählen und berichten, aber nicht urteilen und richten, sie hörte folglich auf, die Lehrerin der Menschheit zu sein. Ein Mensch, als göttliches Werkzeug betrachtet, ist, als solches, ein Gegenstand, dem natürlicherweise in den Augen der Menschen etwas von der Heiligkeit der Hand, die ihn als Werkzeug braucht, sich mitteilt. Dieser Heiligenschein aber entzieht ihn dem Bereiche der menschlichen Beurteilung; ja noch mehr! seine Persönlichkeit verliert alle geschichtliche Bedeutung, seine inneren Triebfedern, seine Entwickelungsgeschichte sind etwas höchst Gleichgültiges, verlieren für uns allen Sinn und Geschmack; denn nur als freihandelnde Wesen gedacht, können die Menschen eine geschichtliche Bedeutung haben.– Ich frage ferner: Sind dergleichen Ansprachen an das Volk geeignet, demselben die erwünschte Stimmung in bedenklichen Zeitumständen mitzuteilen? Muß es nicht, statt mit Selbstvertrauen, vielmehr mit einer abergläubischen Furcht vor der göttlichen Zuchtrute, die man beständig vorhält, erfüllt werden? Ist eine solche Furcht die erforderliche Volksstimmung, um nötigenfalls die unrechtmäßigen, eroberungssüchtigen Ansprüche und Angriffe seitens der angeblichen Zuchtrute Gottes auf die Selbständigkeit unseres Vaterlandes mit Mut und Kraft abzuwehren? – Das Christentum weiß nichts von einem irdischen Vaterlande. Aus dem Munde eines Christen darf man also keine Ansprache an das Volk erwarten, die dazu diente, eine echt vaterländische Gesinnung in ihm hervorzurufen und zu pflegen. Der Christ hat den Kopf nur voll von Gottes Ehre und von seinem himmlichen Vaterlande. [Ebenda, S. 83-85.]

Anmerkungen:

1 Vorausedition nach dem Manuskript-Entwurf von L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch W. Schuffenhauer. Band 22 (Gesamtregister, Dokumente, Nachträge). Ergänzung zu W. Schuffenhauer, Neue Daten zum Corpus der Schriften Ludwig Feuerbachs. In: Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft. Hrsg. v. H.-J. Braun, H.-M. Sass, W. Schuffenhauer und F. Tomasoni. Berlin 1990, S. 763-785.

2 Hierzu in der Schrift folgende Anmerkung: Im J[ahre] 1717 wurden in Freisingen mehre "Hexenbueben" grausam hingerichtet. Im J[ahre] 1721 wurde im kurfürstlich bayerischen Landgerichte Moosburg ein gewisser Georg Pröls auf die Aussagen einiger Mädchen und Bettelbuben hin in Verhaft genommen. Von den Mädchen war die älteste 9 Jahre alt. Sie wollten mit eigenen Augen gesehen haben, wie "der krumpe Görgel" rote Ferkel und Mäuse machte; sie widerriefen aber ihre Aussage, als sie dem Georg Pröls vor Gericht gegenübergestellt wurden. Die Bettelbuben, selbst bereits als Zauberer von dem Gericht in Freisingen verhaftet, wollten denselben auf mehren nächtlichen Hexentänzen, die Ihre höllische Majestät angeordnet und in höchsteigener Person eröffnet hatte, gesehen haben. Er wurde 1722 in seinem 28. Lebensjahre, an eine Säule gebunden, erdrosselt; sein Leichnam aber an derselben Stelle auf einem Scheiterhaufen verbrannt und die Asche unter den Galgen verscharrt. Aus einer aktenmäßigen Erzählung von dem Hergange dieses Prozesses und dieser Hinrichtung, welche im J[ahre] 1806 im Drucke erschien, ersieht man mit größtem Erstaunen, mit welchem Ernst und Amtseifer eine kurfürstliche Regierung von Anfang an dieser rein aus der Luft gegriffenen Sache sich annahm und sie bis zu ihrem schauerlichen Ausgang betrieb. Georg Pröls, ein armes Soldatenkind und in frühester Jugend verwaist, diente eine zeitlang als Stallbube bei einem Grafen, wurde aber aus diesem Dienst entlassen, nachdem er ein Bein gebrochen hatte, wovon er zeitlebens einen krummen Fuß behielt; er nährte sich darauf teils vom Kuhhüten, teils vom Betteln. Außer dem Verbrechen der Hexerei, dessen Eingeständnis nur die unerträglichen Folterqualen ihm abgezwungen hatten, lag nicht die geringste Beschwerde gegen ihn vor. Er starb einen schrecklichen Tod, ein unschuldiges Opfer der zu jener Zeit beinahe noch allgemeinen herrschenden Teufelsfurcht. [A. a. O., S.99 f.]

3 Hierzu in der Schrift folgende Anmerkung: Übrigens muß bei dieser Gelegenheit daran erinnert werden, daß die Ehrenmänner, welche am kräftigsten zur Aufhebung dieses und ähnlichen Unfuges im Schulwesen wirkten, selbst dem Lehrerstande angehörten; die hervorragendsten unter diesen Reformatoren zu nennen, ist überflüssig, denn ihre Namen sind jedem gebildeten Deutschen bekannt und teuer. [A. a. O, S. 100.]

4 Marquis von Pombal (1699-1782), 1756-77 Regierungschef in Portugal, vertrieb als Anhänger eines aufgeklärten Absolutismus im Zusammenhang mit bedeutenden Reformen 1759 die Jesuiten aus Portugal und seinen Kolonien und unterstellte die Inquisition königlicher Aufsicht.

5 Gemeint: Antonius von Padua (1195-1231), Franziskanermönch aus Lissabon, Schutzheiliger von Padua und Portugal.

6 Im italienischen Krieg von 1859 Sardinien-Piemonts und dem Frankreich Napoleons III. gegen Österreich erlitt Österreich am 4. Juni bei Magenta eine erste, den Kriegsausgang mitbestimmende verlustreiche Niederlage.

7 Friedrich Schiller, Resignation (1784), V. 85.

Dieser Artikel wurde veröffentlicht in der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik", herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg, Sonderheft Ludwig Feuerbach 1999, S. 99 ff.
Wir danken Herrn Prof. Dr. Schuffenhauer für die Genehmigung der Internet-Publizierung.


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