Ludwig Feuerbach und Gottfried Keller

 

 

Dr. Dr. Joachim Kahl (Marburg)

Freude am Leben – Einverständnis mit dem Tod

Philosophische Meditation zu Gottfried Kellers Gedicht


"Ich hab in kalten Wintertagen" (1849)

Ich hab in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.

Nun, da der Sommer glüht und glänzet,
Nun seh ich, daß ich wohlgetan!
Aufs neu hab ich das Haupt bekränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.

Ich fahre auf dem klaren Strome,
Er rinnt mir kühlend durch die Hand,
Ich schau hinauf zum blauen Dome
Und such – kein beßres Vaterland.

Nun erst versteh ich, die da blühet,
O Lilie, deinen stillen Gruß:
Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet,
Daß ich wie du vergehen muß!

Seid mir gegrüßt, ihr holden Rosen,
In eures Dasein flücht’gem Glück!
Ich wende mich vom Schrankenlosen
Zu eurer Anmut froh zurück!

Zu glühn, zu blühn und ganz zu leben,
Das lehret euer Duft und Schein,
Und willig dann sich hinzugeben
Dem ewigen Nimmerwiedersein!


Im Winter 1848/49 hatte der Schweizer Gottfried Keller in Heidelberg den deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach kennen gelernt. Dort hielt der atheistische Denker im Rathaus-Saal Vorlesungen über das "Wesen der Religion". Diese berühmten, später gedruckten Vorlesungen schlossen mit einprägsamen Worten, die auch die geistige Richtung bezeichneten, in der Gottfried Keller fortan seine Dichtkunst entwickelt hat. Feuerbach beendete seine Rede mit den packenden Formulierungen, er wolle seine Zuhörer "aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, auch Gläubigen zu Denkenden, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen (…) zu Menschen, zu ganzen Menschen" machen.

Die Begegnung mit Feuerbach verwandelte Kellers Leben und Schaffen. Im Roman "Der grüne Heinrich" setzt er den "lebenden Philosophen" mit einem "Zaubervogel" gleich, "der im einsamen Busche sitzt" und "den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang". In dem Programmgedicht "Ich hab in kalten Wintertagen" hat er das Schlüsselerlebnis seiner weltanschaulichen Neuorientierung zu einem lyrischen Text von großer Schönheit verarbeitet.

Entgegen einem ersten, noch oberflächlichen Eindruck ist zunächst festzuhalten: das Gedicht ist kein Wintergedicht, sondern ein Sommergedicht. Autobiografisch rückblickend spielt der Dichter auf den Heidelberger Winter an, als ihm – in Kälte und Dunkelheit – die christliche Hoffnung keine Kraft mehr vermittelte und er sich – unter dem Eindruck Feuerbachscher Argumente – das "Trugbild der Unsterblichkeit" aus dem Kopf schlug, den religiösen "Wahn" zu Grabe trug.

Inzwischen aber ist es wieder Sommer geworden. Der Aufklärungs- und Lernprozess, in den Keller geraten war, hat sein krisenhaftes Durchgangsstadium hinter sich gelassen. Als dessen sprachliches Echo fällt der stark reflexive Charakter des Gedichtes auf. Nicht unüberlegt und bloß impulsiv hat sich Keller von der Religion als illusionärer Sinnstifterin abgewandt. Vielmehr überprüft und bekräftigt er drei Mal die eigene Entscheidung:

  • "Nun seh ich, dass ich wohlgetan!"

  • "Nun erst versteh ich, die da blühet,"

  • "Das lehret euer Duft und Schein".

Der Dichter hat wieder Tritt gefasst und schaut erhobenen, geschmückten Hauptes die alte Welt mit neuen Augen an. Zwei urtümliche Elemente – das fließende Wasser und der blaue Himmel – sowie zwei symbolträchtige Blumen – die Lilie und die Rose – dienen ihm dazu, das gewandelte Welt- und Selbstverständnis poetisch zu gestalten. Unmerklich weitet sich das Individuelle zum Allgemeinen, geht das Autobiografische ins Kosmopolitische über. Angesprochen wird jeder Mensch als Erdenbürger und als Weltbürger.

"Ich fahre auf dem klaren Strome,
er rinnt mir kühlend durch die Hand".

Das alte Motiv der Weltfahrt, der Lebensreise aufgreifend, überhöht Keller den Neckarstrom zum Lebensstrom. Er rinnt ihm durch die Hand, das heißt: der Strom trägt zwar, aber zugleich zer-rinnt er ihm auch unvermeidlich zwischen den Fingern. Diese Erinnerung an das Vergängliche begründet freilich kein Wehklagen. Der Dichter erlebt das Rinnen wohltuend als Kühlung, als Erfrischung. Ein stehendes Gewässer ist rasch abgestanden. Nur was fließt, was rinnt und damit freilich auch ver-rinnt, ist lebendig.

Auch der Blick zum Himmel vermittelt ein weltlich-diesseitiges, humanistisches Heimatgefühl, das der Erde treu bleibt.

"Ich schau hinauf zum blauen Dome
und such – kein beßres Vaterland."

Jahrtausendelang haben Menschen zum Himmel empor geschaut und sich dort ein Reich ungeschmälerter Glückseligkeit erträumt. Noch Friedrich Schiller dichtete im "Lied an die Freude" mit idealistischem Pathos:

"Brüder, überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen."

Für den Feuerbachianer Gottfried Keller ist der Himmel keine religiöse Kategorie mehr, sondern hat nur noch astronomische, meteorologische und ästhetisch – emotionale Bedeutung. Er findet sein Genügen und Vergnügen hier unten auf der Erde. Nicht länger gilt sie ihm als ein "Jammertal", dem möglichst rasch zu entkommen sei. Die Erde ist der Ort, unser Ort, der einer menschenwürdigen und lebenswerten Gestaltung und Umgestaltung zugänglich ist.

In der zweiten Hälfte des Gedichts – in den Strophen vier bis sechs – zeigt der Dichter die Parallelität zwischen dem menschlichen und dem pflanzlichen Leben auf. Sie ist in der alles übergreifenden Ordnung der Natur begründet.

Wie die Lilie muss der Mensch vergehen. Der Rosen Duft und Schein lehrt ihn, intensiv zu leben. Keller knüpft an eine traditionelle Symbolik der Blumen an. Die Lilie ist die Blume der Reinheit, des Verzichts, der Entsagung, des Todes. Die Rose ist die Blume des Liebesglücks und der Vergänglichkeit, Sinnbild von Venus und Vanitas.

Die Lilie grüßt von sich aus, und zwar still. Die Rosen, ausdrücklich in der Mehrzahl erwähnt, werden von Keller gegrüßt. Zu ihnen wendet er sich bewusst zurück. Der Lilie ist eine Strophe gewidmet, den Rosen sind zwei Strophen eingeräumt. Beide Blumen vermitteln letztlich dieselbe Botschaft, aber in unterschiedlicher Hinsicht, mit sich ergänzender Akzentuierung.

Die von sich aus grüßende Lilie lehrt die Vergänglichkeit. Ihre Botschaft ergeht an die Menschen, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es merken oder nicht. Die Botschaft der Rosen, das Glück in seiner Flüchtigkeit auszukosten, muss dagegen bewusst wahrgenommen, bewusst angenommen werden: deshalb grüßt Keller sie.

"Zu glühn, zu blühn und ganz zu leben" – so lautet die programmatische Lehre der Rosen an die Menschen:

  • zu glühn, das heißt: nicht lauwarm, nicht mittelmäßig, nicht schlapp, sondern mit Elan und Lust zu leben,

  • zu blühn, das heißt: in aller Pracht und Schönheit im Verborgenen und in der Öffentlichkeit zu wirken,

  • ganz zu leben, das heißt: nicht am Leben vorbei, sondern die Fülle seiner guten Möglichkeiten ausschöpfend.

Was die Rose von Natur aus tut, der Mensch muss es erst lernen. Er muss es wollen und üben. Er kann daran auch scheitern, Lebensweisheit und Lebenskunst verfehlen. Was aus der Rose organisch hervor wächst, beim Menschen ist es eine bewusste Leistung. Die Parallelität von Pflanze und Mensch als organischer Wesen wird also im Gedicht nicht überzogen, die Verantwortlichkeit des Subjektes nicht geleugnet.

"Ich wende mich vom Schrankenlosen
zu eurer Anmut froh zurück"

Schrankenlos ist die von Keller anfänglich geteilte christliche Hoffnung auf ein ewiges Leben. Das Schrankenlose verfehlt das Maß des Menschlichen. Der Mensch ist nicht für die Ewigkeit gemacht und verirrt sich in der Unendlichkeit. So wendet Keller sich im Angesicht der Rosen, die ihr kurzes Glück in Schönheit zu Ende leben, zurück zum begrenzten Bereich menschlicher Existenz, um dort zu wahrer Fülle vorzustoßen. Erfüllung und Entsagung durchdringen sich und begründen sich wechselseitig.

Um jede Unklarheit des ideellen Gehaltes auszuschließen, beendet Keller sein Gedicht mit seinem geradezu polemischen Ausblick auf das "ewige Nimmerwiedersein". Den frommen Wunsch auf manchen christlichen Grabsteinen "Auf Wiedersehen" verwandelt er mit einem Wortspiel in ein unfrommes "Nimmerwiedersein". Der Tod ist das wirkliche Ende des ganzen Individuums, kein unsichtbarer Übergang in eine andere, höhere, vergeistigte Stufe der Existenz. Eine Ewigkeit waren wir nicht. Für eine kurze Zeitspanne treten wir ins Sein. Dann fallen wir zurück ins "ewige Nimmerwiedersein".

Diese Einmaligkeit der menschlichen Existenz, ihre Unwiederholbarkeit und Unverlängerbarkeit, hat später auch Rainer Maria Rilke – darin ebenfalls von Feuerbach beeinflusst – in seiner Neunten Duineser Elegie besungen. Freilich erreicht Rilke nicht die gedankliche Strenge und kompositorische Klarheit Gottfried Kellers, der das "ewige Nimmerwiedersein" als letztes Wort in die letzte Zeile zaubert.

Gottfried Keller ist es in seiner Dichtkunst gelungen, die illusionslose Einsicht in die Endgütigkeit des Todes fruchtbar zu machen für ein positives Lebensgefühl. Ein radikales Endlichkeitsbewusstsein, das Ja sagt zur eigenen Sterblichkeit, bringt eine abschiedlich getönte Lebensfreude hervor.

Der Tod überschattet das Leben, aber er entwertet es nicht. Er verweist auf dessen Schönheit, die freilich rasch vergeht. Mit leiser Stimme, die viele überhören, spricht er zu uns: Vergeudet nicht euer Leben! Es ist das einzige, das ihr habt. Vertrödelt nicht die kurze Zeit, die euch gegeben ist, sondern lebt.

Das ist die Art der Selbstfindung und Selbstvergewisserung, über die wir einiges bei Gottfried Keller lernen können.

Friedrich Nietzsche hat einmal Gottfried Keller brieflich angeredet als "Herzerfreuer". Dieses Gedicht erfreut in der Tat das Herz, und es inspiriert den Verstand. Lassen wir uns weiterhin von Kellers Kunst beglücken, befreien, belehren!


Das Portrait Gottfried Kellers am Seitenanfang stammt aus dem Jahr 1854.

Im Internet finden Sie die Homepage von Joachim Kahl unter www.kahl-marburg.de


Die im vorstehenden Text von Joachim Kahl aufgezeigte tiefe Einwirkung Feuerbachs auf Gottfried Keller in Heidelberg 1849/1849 wird sehr deutlich auch im Briefwechsel Kellers(1), der an seinen Freund Baumgartner noch frisch unter dem Eindruck Feuerbachs davon ganz offen berichtet:

 

28. 1. 1849 Keller an Wilhelm Baumgartner

Heidelberg d. 28st. Jan. 1849!

Lieber Baum!
...
Das Merkwürdigste, was mir hier passirt ist, besteht darin, daß ich nun mit Feuerbach, den ich einfältiger Lümmel in einer Rezension v. Ruges Werken auch ein wenig angegriffen hatte, über welchen ich grober Weise vor nicht langer Zeit auch mit dir Händel anfing, daß ich mit diesem gleichen Feuerbach fast alle Abende zusammen bin, Bier trinke und auf sein Worte lausche. Er ist von hießigen Studenten u Demokraten angegangen worden, diesen Winter hier zu lesen; er kam und hat etwa 100 eingeschriebene Zuhörer. Obgleich er eigentlich nicht zum Dozenten geschaffen ist und einen mühseligen schlechten Vortrag hat, so ist es doch höchst intressant, diese gegenwärtig weit aus wichtigste historische Person in der Philosophie, selbst seine Religionsphilosophie vortragen zu hören. Ich besuche auch ein anderes Colleg über Spinoza u sein Verhältniß zu unserer Zeit (zugleich neuere Philosophiegeschichte) von Dr. Hettner, welches sehr klar, eindringlich u gescheidt gelesen wird und mich trefflich vorbereitet hat zu Feuerbach selber. Wie es mir bei Letzterem gehen wird, wage ich noch nicht, bestimmt auszusprechen od. zu vermuthen. Nur so viel steht fest: Ich werde tabula rasa machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit allen meinen bisherigen religiösen Vorstellungen, bis ich auf dem Feuerbachischen Niveau bin. Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen absoluten, noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten). Ich kann einstweilen diesem Aufrufe nicht widerstehen. Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident od. erstem Consul, welcher nicht viel Ansehen genoß, ich mußte ihn absetzen. Allein ich kann nicht schwören, daß meine Welt sich nicht wieder an einem schönen Morgen ein Reichsoberhaupt wähle. Die Unsterblichkeit geht in den Kauf. So schön und empfindungsreich der Gedanke ist – kehre die Hand auf die rechte Weise um, und das Gegentheil ist ebenso ergreifend und tief. Wenigstens für mich waren es sehr feierliche und nachdenkliche Stunden, als ich anfing, mich an den Gedanken des wahrhaften Todes zu gewöhnen. Ich kann dich versichern, daß man sich zusammen nimmt und nicht eben ein schlechterer Mensch wird.

Dieß Alles, lieber Baumgartner, hat sich in der Wirklichkeit nicht so leicht gemacht, als es hier aussieht. Ich ließ mir Schritt für Schritt das Terrain abgewinnen. Ich übte am Anfange sogar eine Kritik aus über Feuerbachs Vorlesungen. Obgleich ich den Scharfsinn seiner Gedanken zugab, führte ich doch stets eine Parallelreihe eigener Gedanken mit, ich glaubte im Anfange nur kleine Stifte und Federn anders drücken zu können, um seine ganze Maschine für mich selber zu gebrauchen. Das hörte aber mit der fünften od. sechsten Stunde allmälig auf und endlich fing ich an, selbst für ihn zu arbeiten. Einwürfe, die ich hegte, wurden richtig von ihm selbst aufs Tapet gebracht und oft auf eine Weise beseitigt, wie ich es vorausahnend schon selbst halb und halb gethan hatte. Ich habe aber auch noch keinen Menschen gesehen, der so frei von allem Schulstaub, von allem Schriftdünkel wäre, wie dieser Feuerbach. Er hat nichts als die Natur und wieder die Natur, er ergreift sie mit allen seinen Fibern in ihrer ganzen Tiefe und läßt sich weder von Gott noch Teufel aus ihr herausreißen.

Für mich ist die Hauptfrage die: Wird die Welt, wird das Leben prosaischer und gemeiner nach Feuerbach? Bis jetzt muß ich des bestimmtesten antworten: Nein! im Gegentheil, es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher. – Das Weitere muß ich der Zukunft überlassen, denn ich werde nie ein Fanatiker sein, und die geheimnißvolle schöne Welt zu allem Möglichen fähig halten, wenn es mir irgend plausibel wird. ...

Bei Henle höre ich Anthropologie; sein Vortrag, der Form wie dem Stoffe nach, ist ausgezeichnet, ein wahrer Kunstgenuß, arbeitet übrigens dem Feuerbach bedeutend in die Hände. Wie Schade ist es, daß Henle ein eigentlich leidenschaftlicher Monarchist ist. ... Er war mit Feuerbach befreundet und theilt auch seine Ansichten u Grundsätze. Als Feuerbach hieher kam, nahm er das größte Intresse daran u sprach immer mit Achtung u Liebe von ihm. Sobald er aber hörte, daß F. bei einem Republikaner wohne u selbst ein solcher sei, gab er ihn auf und – machte ihm nicht einmal einen Gegenbesuch! Das sind die freien, sonnigen Höhen der Wissenschaft. –
...
D. 21t. Februar.
Noch immer liegen die unglücklichen Briefe in meiner Tischtrucke, kommen aber hoffentlich heut od. morgen endlich auf die Post. ... Die Professoren sind doch ein wunderliches Volk. Henle wird nun von hier fortgehen, weil ihm der geheime Hofrath Tiedemann auf der Anatomie in einem Wortwechsel gesagt hat, er sei ein "unverschämter Judebub"! Hofrath Henle selbst hat, nachdem er vor wenigen Wochen zu mir u anderen gesagt hatte, er theile durchaus Feuerbach’s Grundsätze, nur nicht sein Auftreten: dieser gleiche Henle hat letzter Tage in seiner Anthropologie den lieben Gott wiederhergestellt, weil er vermuthlich nicht in den Verdacht kommen will mit dem Demokraten Feuerbach irgend etwas Gemeinsames zu haben. Dieser Letztere wird mir täglich lieber, vielleicht auch ein wenig darum, weil er ein Glas Rothen nicht verachten thut.
...
D. 10t. März!!!
Unglückseliges Schifflein dieser Briefe! es will nicht vom Lande stoßen; im Spätherbst planirt, zu Neujahr angefangen und im Frühling fertig – wenns nun noch Sommer wird, bis er in Zürich ankommt, dann kann dieser Brief sagen, er sei durch alle Jahreszeiten gewachsen, bis er, wie eine reife Frucht, endlich vom Baume fiel. Hier haben wir schon die herrlichsten Frühlingstage gehabt; heute Nacht ist zwar ein Schnee gefallen, aber die Sonne brennt ihm diesem Augenblick, da ich dieses schreibe, tüchtig auf den Pelz. Es gährt wieder ziemlich unter dem Volke hier zu Lande, ich wünsche aber kaum daß nächstens etwas losgeht, wenigstens möcht’ ich nicht in Heidelberg sein während einer Revolution; denn ein roheres und schlechteres Proletariat habe ich noch nirgends gesehen, als hier; man ist Nachts seines Lebens nicht sicher, wenn man allein über die Straße geht; die unverschämtesten Bettler fressen einen fast auf und dabei brummen diese unglückseligen Geschöpfe fortwährend v. Republik u Hecker. Die sogenannten "Führer" sind aber auch darnach, nämlich die Redakteure der Winkel- u Lokalblätter etc. bornirtere u brutalere Kerls sind mir noch nicht vorgekommen, als die deutschen Republikaner zweiten und dritten Ranges; alle bösen Leidenschaften: Neid, Rachsucht, Blutgierde, Lügenhaftigkeit, nähren und pflegen sie sorgfältig im niederen Volke. ...

Adieu
G. Keller
Froschau D No 281. bei Ewald.

 

Vielleicht wundert angesichts dieser von G. Keller frisch aus dem Leben gegriffenen Schilderung der Heidelberger "Revolutionäre" die Skepsis Feuerbachs gegenüber dem Erfolg einer Revolution weniger?

Ende 1860 hatte G. Keller Kenntnis vom finanziellen Fiasko der Bruckberger Porzellanfabrik und von dessen Auswirkung auf die Lebensgestaltung Feuerbachs erhalten, der nach Rechenberg bei Nürnberg umziehen mußte und dazu auf die Unterstützung von Freunden angewiesen war. Daß er an dessen Schicksal innerlich Anteil nahm, zeigt sein folgender Brief:

 

9. 11. 1860 Keller an Ludmilla Assing

Verehrtes Fräulein!
...
Der Frau Herwegh hatte ich Ihren Brief stracks gebracht; sie war sehr vergnügt darüber, beneidete Sie aber um die goldenen Schloßoblaten. Sie las mir einen rührenden und intressanten Brief von Ludwig Feuerbach vor, der ganz arm geworden ist und seine langjährige Wohnung, Schloß Bruckberg, das Erbe seiner Frau, verlassen mußte, ohne recht zu wissen wohin. Trotz der unverkennbaren Klage ist der Stil des himmelstürmenden Philosophen dennoch würdig und trotzig. ...

Ihr ergebenster und unterthänigster
Gottfr. Keller
Zürich d. 9t Nov. 1860

Anmerkung:
(1) Fundstelle: Internet http://www.kellerbriefe.ch/briefe.htm. ZB: Ms. GK 78d Nr. 2/3,1,2,4a; GB Bd. 1, S. 273

Helmut Walther

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