Neues Deutschland vom 25.10.2004 (Quelle: Internet)

Zeitalter der Kreuzzüge

Ludwig Feuerbach in internationaler Sicht

Von Gert Lange

 

Ob ein Gelehrter, den man einmal als den »tiefsten und kühnsten Denker der Gegenwart« bezeichnet hat, für folgende Generationen noch dieselbe »zackende Aktualität« hat oder im Orkus des Vergessens verschwindet, unterliegt dem Zeitgeist. Der pendelt sich immer zwischen Mode und hintergründiger Absicht auf ein den Herrschenden genehmes Maß der Vermittlung ein. Dass in diesem Jahr eine Flut von Kant-Editionen und Kant-Artikeln das Land überrollte, Ludwig Feuerbach aber, dem anlässlich seines 200. Geburtstages ebenfalls ein würdiges Gedenken zugestanden hätte, kaum beachtet wurde, das ist kein Zufall.

Es gibt wahrscheinlich keinen anderen deutschen Philosophen, der so oft fehlgedeutet, kleingeredet, mit Klischees bedacht worden ist, wie Feuerbach. Der schlechte Witz an der Sache ist, dass Feuerbachs Erben, die linke Sozialdemokratie und die Kommunisten, einem »Interpretationsdogma« – so nennt es die Philosophiehistorikerin Ursula Reitemeyer – verfallen sind, das zur Delegitimation beigetragen hat. Über ein Jahrhundert lang, seit der viel zitierten Schrift »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in der Friedrich Engels, zum Teil mit haarsträubenden Missdeutungen, Feuerbach vorwirft, er huldige einer Liebesphilosophie und predige eine »neue Religion«, hängt dieses Zerrbild des einst verehrten »Vorläufers« im Pantheon der Ideengeschichte.

Aber Feuerbach ist der große Reformator der Philosophie gewesen, er hat der materialistischen Sichtweise zum Durchbruch verholfen. Der Gedanke, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, stammt von Feuerbach; Marx hat ihn übernommen. Hegels spekulative Philosophie stellt er vom Kopf auf die Füße und macht das Subjekt (bei Hegel der Geist) zum Prädikat, nämlich der Natur oder der Sinnlichkeit – das ist seine revolutionäre Leistung. Man hat in Feuerbach meist nur den Religionskritiker gesehen und dabei wenig wahrgenommen, dass er am Beispiel der Religion alle Weltanschauungsfragen aufrollt.

Eine Wende in der Feuerbach-Rezeption, stark befördert durch die Herausgabe der Gesammelten Werke durch Werner Schuffenhauer in einer Arbeitsstelle zuerst an der DDR-, jetzt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deutet sich seit der offiziellen Gründung der Internationalen Gesellschaft der Feuerbach-Forscher im Jahre 1989 an.

Auf ihrem Kolloquium am Wochenende, an dem Wissenschaftler aus 12 Ländern teilnahmen, zeigte sich einmal mehr, wie praxisnah die Beschäftigung mit Feuerbach sein kann. Zentrales Anliegen war, die Individualität des Menschen zu verteidigen, ja überhaupt noch einmal zu fixieren in einer Zeit, da »in vielen Fällen der Einzelne sich zwischen Arbeitslosigkeit und einer Selbstvermarktung des Leibes entscheiden muss«, wie Reitemeyer ausführte. Feuerbach hatte, als erster Philosoph, das leibliche Wesen und dessen Sinnlichkeit als das Nonplusultra des Selbstseins bestimmt. Demzufolge ist die christliche Unterscheidung von Leib und Seele künstlich, d.h. »aufgedrückt von den Machteliten, die einen ideologischen Überbau erzwingen, um ihren ökonomischen und politischen Einflußbereich vor Übergriffen zu schützen und zu erweitern«.

Die Theologie hat diesen Prozess der Entleiblichung – Marx spricht von der »Entwesung des Menschen« – von Anfang an mitgetragen. Deshalb sah Feuerbach in der Säkularisation der bürgerlichen Gesellschaft eine Möglichkeit, dass der Mensch seine Individualität wiederfindet. Heutzutage, wo wir es mit Cyberspace und virtueller Kommunikation zu tun haben, stünde eine zweite Säkularisation an, meint Reitemeyer; sie hätte »die Ideologiemodelle insgesamt zur Disposition zu stellen, die allesamt darauf zielen, den Menschen zu entindividualisieren bzw. zu entleiblichen, sei es im Namen der Religion, der Wissenschaft, der Macht oder der Profitrate«.

Dieser Ansatz, säkulare Glaubenskonstrukte aufzubrechen, wurde bedauerlicherweise nicht vertieft. Lediglich der italienische Philosoph Francesco Tomasoni ging auf die Bedeutung der Skepsis für den Erkenntnisprozeß ein. Feuerbach unterschied zwischen »wahren« Skeptikern, die erfreut sind, wenn ihren Aussagen widersprochen wird, und Skeptikern aus pathologischer Selbstliebe – wie sinnvoll, wenn wir an die Querelen unter gegenwärtigen Linken denken. Aber dass Skepsis angebracht ist, sei es um neue pseudoreligiöse Erklärungsmuster der Welt zu durchschauen, sei es um Information als wahr oder unwahr zu erkennen, davon hat er sich leiten lassen.

Erfreulich, dass eine Reihe junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit gegenwartsbezogenen Beiträgen auf dem Kolloquium auftraten; auch das offenbart eine Wende in der Feuerbach-Forschung. Beispielsweise hat Judith Sievering, die ethischen Ansätze Feuerbachs und Richard Rortys vergleichend, den Begriff der moralischen Sensibilität in den Mittelpunkt gerückt, eine Fähigkeit, die in den Existenzkämpfen und fundamentalistischen Auseinandersetzungen etwas verloren gegangen, die aber eine Voraussetzung für Solidarität ist. Insgesamt wurden etliche bisher nicht erkannte oder vernachlässigte Denkansätze des »höchst liebenswürdigen Ketzers« (Arnold Ruge) erschlossen. Es scheint an der Zeit, eine Neubewertung Feuerbachs vorzunehmen.




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