Feuerbach, der deutsche Aufklärer

Josef Winiger (Kaltental)

aus: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 3/1999 Ludwig Feuerbach, S. 37 ff.


Beachten Sie auch die Neuerscheinung des Autors im Jahr 2004 / Neuauflage 2011 zu Ludwig Feuerbach:

Winiger, Josef: Ludwig Feuerbach. Denker der Menschlichkeit
Darmstadt, Lambert Schneider Verlag 2011

Neue und überarbeitete Auflage
373 S. mit Bibliographie und Personenregister, 14,5 x 22 cm, Fadenheftung, gebunden.
ISBN-13: 9783650240309
ISBN-10: 3650240300
Internet: http://tinyurl.com/6e9ajtr


Beim Wort "Aufklärung" denken wir unwillkürlich an Frankreich, ans 17. und vor allem ans 18. Jahrhundert, und die Namen von großen französischen Denkern, die wir mit der Aufklärung verbinden, kommen uns zuhauf: Pierre Bayle, Malbranche, die Enzyklopädisten, Voltaire ... Auf Französisch heißt das Zeitalter der Aufklärung siècle des Lumières – oder kurz les lumières –, wobei "lumières" sowohl die in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten bezeichnet als auch die Denker, denen wir diese Erkenntnisse und Einsichten verdanken. Die Epoche der Aufklärung war nicht nur eine Zeit grundlegender wissenschaftlicher Entdeckungen, sondern auch der Emanzipation des Denkens von Vorstellungen und Lehren, die seit Jahrhunderten unbefragt Geltung hatten. Die dramatischsten Auseinandersetzungen brachte dieser Prozeß auf dem Gebiet der Emanzipation von den religiösen Vorstellungen und Dogmen. Pierre Bayle, einer der frühesten und wichtigsten Vertreter der französischen Aufklärung, hatte bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts sehr deutlich die Unverträglichkeit der beiden geistigen Welten – hie Dogmenglaube, dort neue wissenschaftliche Rationalität – herausgearbeitet. Die Auseinandersetzung war von Anfang an nicht ein akademischer Zwist, sondern eine gesellschaftliche, ja politische Auseinandersetzung, da sich die christlichen Kirchen durch die neue Rationalität bedroht fühlten; sie waren innig mit der absolut herrschenden Adelsklasse verbündet und entsprechend mächtig, so daß sie mit harter Repression gegen die neuen Freidenker vorgehen konnten. Und mit der geistigen Emanzipation ging das Streben nach politischer Emanzipation einher: Derselbe Pierre Bayle forderte mit seinem Pamphlet La France toute catholique sous le règne de Louis le Grand bereits 1685 bürgerliche Freiheit. Im Verlauf eines Jahrhunderts radikalisierte sich die französische Aufklärung und sammelte sehr viel gesellschaftlichen Zündstoff an. Keine zwei Generationen nach Bayle geißelte Voltaire öffentlich und ununterbrochen die politischen und gesellschaftlichen Zustände. Ohne diese Radikalisierung der geistigen Elite und die immer weiter gehende Unterminierung des ideologischen Gebäudes, auf das sich die das ancien Régime stützte, wäre die Französische Revolution nicht zu denken.

In deutschen Landen ist selbst noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also hundert Jahre nach Bayle, kaum etwas auszumachen, was dieser mächtigen geistigen Bewegung Frankreichs gliche. Obwohl es an Austausch nie gefehlt hat: Schon Leibniz hatte mit seinem Zeitgenossen Bayle korrespondiert, und die gebildeten Schichten in Deutschland, die ja immer Französisch konnten, lasen die französischen Freigeister sehr wohl. Doch die wenigen Denker von großem Format, die man wirklich als deutsche Aufklärer bezeichnen kann – Lessing vor allem, oder Lichtenberg – waren isoliert und hatten kaum Gefolgschaft. Dabei lebten in Deutschland gerade um diese Zeit so viele große Philosophen wie nie zuvor: Kant, Fichte, Hegel, Schelling – alle im Abstand von einem halben Jahrhundert geboren ... Doch Kant, dessen Name im Zusammenhang mit der deutschen Aufklärung immer sofort fällt, hat zwar die berühmte Definition gegeben: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", und er hat sicherlich aufgeklärt gedacht, doch aufklärerisch gewirkt hat er kaum. Etwas böse ausgedrückt: Er mahnte ständig an – zum Beispiel in der Schrift, die mit der zitierten Definition beginnt: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? –, man müsse sagen dürfen, was man denke, doch er tat es nie, wenigstens nie in der Kompromißlosigkeit der Franzosen. Der 1792 anonym erschienene Versuch einer Kritik aller Offenbarung, den man zunächst für sein öffentliches weltanschauliches Bekenntnis hielt, stellte sich als das Werk des jungen Fichte heraus (Kant hatte allerdings den Verleger vermittelt), und sein spätes Werk über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft enttäuschte die freieren Geister, weil es – so auch auf Goethe – einen zwiespältigen, kompromißlerischen Eindruck machte. Zu seiner Entschuldigung sei gesagt, daß in den Jahren vor dem Erscheinen die Zensurgesetze mehrfach verschärft wurden und er mit seiner Schrift über die Religion, so leise sie war, prompt in Konflikt mit den Gedankenwächtern geriet, sie trug ihm sogar eine Ermahnung in Form einer Königlichen Kabinettsorder ein. Fichte bewies mehr persönlichen Mut, und das nicht erst in seinen berühmten Reden an die deutsche Nation, die er 1807/08 im französisch besetzten Berlin hielt. Schon 1793 hatte er eine Schrift (in Form einer Rede) mit dem Titel Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas sowie eine Verteidigung der Französischen Revolution veröffentlicht, und 1798 äußerte er sich zur Religion in so deutlichen Worten, daß es ihn die Professur in Jena kostete.

Hegel und Schelling hatten sich in ihrer Studienzeit im Tübinger Stift, wo sie gemeinsam mit Hölderlin ein Zimmer bewohnten und eine Art Dreibund beschworen, für die französische Revolution und ihre geistigen Inhalte begeistert. Doch Hegel hat sich kaum je mit den herrschenden Mächten angelegt (eher arrangiert), geschweige denn sich als Aufklärer betätigt, auch wenn er seinen Zeitgenossen als fortschrittlich erschien. Er entwickelte ein grandioses System, in dem sehr viel die Rede von Wissenschaft und wissenschaftlichem Geist ist, das aber selbst dann, wenn es sich mit praktischer Wirklichkeit, z.B. dem Staat oder dem Rechtssystem, befaßte, in politischer Hinsicht eigenartig zahnlos blieb. Und Schelling entwickelte sich nachgerade zur philosophischen Instanz, auf die sich die reaktionären geistigen Strömungen der Restauration ad libitum berufen konnten.

Eine Aufklärung als intellektuelle Bewegung gibt es in Deutschland jedenfalls nicht oder höchstens in zaghaften Ansätzen, als 1819 mit den "Karlsbader Beschlüssen" die institutionalisierte, von einer Geheimpolizei betriebenen "Demagogenverfolgung" einsetzt und für fast dreißig Jahre die sich anbahnende geistige Emanzipation praktisch erstickt. Oder zumindest aufs Schwerste behindert, denn da diese geistige Emanzipation überfällig ist, regen sich, untergründig und in mittelbarer Form, Widerstände aller Art. Vielfach sind diese Emanzipationsbestrebungen patriotisch-nationalistisch gefärbt, in einigen Kreisen sind sie aber klar fortschrittlich und zielen auf Rechtsstaatlichkeit und Geistesfreiheit ab. Ludwig Feuerbach wird in diese fortschrittlichen Kreise hineingeboren: Sein Vater ist bekanntlich der Autor des allerersten Strafgesetzbuches, das in einem deutschen Staat die von der französischen Revolution geschaffene, moderne Rechtssprechung verwirklichte. Seine Brüder Anselm und Karl waren – letzterer sogar führend – in den studentischen Geheimbünden engagiert, die in den zwanziger Jahren und Anfang der dreißiger mit dem Respekt vor der staatlichen Autorität auch den Respekt vor den religiösen Autoritäten verloren. Der aufklärerische Impetus ist Ludwig Feuerbach also in die Wiege gelegt worden. Und das aufklärerische Engagement wird das treibende Hauptmotiv für seine philosophische Entwicklung in den späten dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts sein. Feuerbach wird in dieser Zeit, wie man wohl ohne Übertreibung sagen kann, für Deutschland die Aufklärung regelrecht nachholen, und zwar mit einer Gründlichkeit und Radikalität, die nicht ihresgleichen hat, und mit einer Wirkung, die quasi definitiv ist: Unser heutiger, ganz selbstverständlicher Standpunkt, nach dem alle Reflexion über den Menschen davon ausgehen muß, daß er ein Bestandteil der Natur ist, und daß alle Wahrheit – selbst religiöse Wahrheit, wie in unserem Jahrhundert der große protestantische Theologe Karl Barth zugab – immer menschliche Wahrheit ist, also immer nur Wahrheit für den Menschen sein kann, dieser Standpunkt wurde in dieser Klarheit und Ausführlichkeit erstmals von Feuerbach formuliert. Er ist, wie Karl Löwith es ausdrückte, "zum Standpunkt der Zeit geworden, auf dem wir nun alle – bewußt oder unwissend – stehen"(1). (Vielleicht ist gerade diese heutige Selbstverständlichkeit des Feuerbachschen Standpunktes ein Grund dafür, daß Feuerbachs Schriften nur noch wenig gelesen werden.)

In der ersten Zeit: Hoffen auf das "Reich der Idee"

Feuerbachs Schriften der vierziger Jahre hatten bekanntlich auf die fortschrittlich gesinnten Zeitgenossen eine ungeheuer befreiende Wirkung. So berichtet Karl Marx begeistert, selbst in Pariser Arbeitervereinen sei das Wesen des Christentums studiert worden. Und Engels schreibt in einem späten Rückblick: "... da kam Feuerbachs Wesen des Christentums. Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, aus der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind... Der Bann war gebrochen, das ‚System‘ war gesprengt und beiseite geworfen... Man muß die befreiende Wirkung dieses Bruches selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen."(2)

Zu Beginn von Feuerbachs Laufbahn deutete wenig auf eine solche Entwicklung hin. Zwar hatte er mit seiner allerersten, 1830 anonym erschienenen Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit für einigen Wirbel gesorgt. Anselm, der Älteste der Feuerbach-Brüder (Vater des Malers Anselm Feuerbach), und wohl etliche radikale jüngere Intellektuelle mit ihm, war von der Schrift so begeistert, daß er sie als das "fünfte Evangelium" bezeichnete. Breitere Kreise konnte Feuerbach damit allerdings nicht erreichen: Das Buch wurde sofort verboten. Und in seinem zweitem Buch, mit dem er erstmals als Autor, also unter seinem Namen, an die Öffentlichkeit trat, wird der heutige Leser einige Mühe haben, eine aufklärerische Intention zu entdecken. Zunächst einmal, weil es ein philosophiegeschichtliches Werk ist. Feuerbachs erstes schriftstellerisches Vorhaben war eine mehrbändige Geschichte der neuern Philosophie. 1833 legte er den ersten Band vor, der von Bacon bis Spinoza reicht(3). Er eckte damit nicht im geringsten an, ganz im Gegenteil, er machte sich sogar auf Anhieb einen Namen als Gelehrter: Mehrere Prominente – unter ihnen der preussische Kultusminister Altenstein in Person – machten brieflich Komplimente. Und die Berliner "Societät für wissenschaftliche Kritik" bot ihm die Mitarbeit in ihren Jahrbüchern, dem quasi offiziellen Organ des Hegelianismus an. Selbst heute hält man dieses Feuerbach-Werk noch für lesenswert, wenigstens wurde es kürzlich, zusammen mit philosophiegeschichtlichen Texten von Hegel, Schelling und Heine, in eine "Digitale Bibliothek" auf CD-ROM aufgenommen. Es ist tatsächlich gediegene Lektüre, gemessen an anderen berühmten philosophischen Abhandlungen jener Zeit wohltuend gut lesbar – die "didaktische" Zielsetzung ist explizit –, und relativ wenig "hegelianisierend", obwohl Feuerbach zu dieser Zeit noch überzeugter Hegelianer war.

Aber was daran soll aufklärerisch sein? Einige Äußerungen nehmen zwar Hauptargumente der französischen Aufklärung auf. Zum Beispiel in der Einleitung, wo Feuerbach einen großen Bogen von der grauen Vorzeit über die griechisch-römische Antike bis hin zur Neuzeit schlägt. Er bezichtigt darin das Christentum einer grundlegend lebensfeindlichen Tendenz: Es habe sich zu einer "antikosmischen und negativen" Einstellung gegenüber Natur und Welt entwickelt, zu einer Religiosität, die vom "Positiven der Welt" abziehe. Und wenn sich innerhalb des Christentums gleichwohl rationales Denken – wie in der Scholastik – habe betätigen können, so sei dies "gleichsam nur so unterderhand" geschehen. Das habe dann sich allerdings mit der Zeit verhängnisvoll ausgewirkt, indem dieses rationale Denken "die Autorität der Vernunft" begründete oder doch wenigstens vorbereitete. Eine ganz ähnliche Entwicklung sei bei der christlichen Kunst zu beobachten: Sie sei die "scheinheilige Verführerin" gewesen, die "den Menschen auf die obersten Zinnen der Kirche führte, um hier seiner beengten und gepreßten Brust freien Atem zu verschaffen, ihn die frischen Himmelsdüfte rein menschlicher Gefühle und Anschauungen einsaugen zu lassen und ihm die reizende Aussicht in die Herrlichkeiten der irdischen Welt zu eröffnen"(4). Diese These führt er in einer mehrere Seiten langen Anmerkung aus (in der er sich auch auf Voltaire beruft) und verdeutlicht sie mit einem hübschen Bild: "Sowenig der Baum, der auf einem Kirchturme steht, aus seinem harten Gesteine entsprossen ist, sowenig kam die Kunst aus der Kirche und ihrem Geiste; der schlaue Vogel des Verstandes trug das Samenkorn auf sie hinauf; als es aufging und zum Pflänzchen gedieh, war es freilich noch unschädlich, als es aber groß, als es Baum wurde, zersprengte es den alten Kirchturm."(5)

Doch ansonsten betreibt Feuerbach in seiner ersten philosophiegeschichtlichen Veröffentlichung ziemlich wenig Religionskritik. Und wenn er es tut, so bleibt seine Kritik allgemein, sie beschränkt sich auf mehr oder weniger beiläufige Polemik. Persönlich ist für ihn das Christentum ad acta gelegt, welthistorisch hat es sich für ihn überlebt. In einer Anmerkung zum Schlußkapitel des Werks merkt er allerdings an, sein Manuskript habe ursprünglich noch etliche Paragraphen enthalten, die er "lieber nicht dem Druck übergeben habe", denn er hätte dabei ein Gebiet berühren müssen, das er "selbst aus der Entfernung nicht ohne einen gewissen Ekel" habe berühren können. Er hat also den Aufklärer in sich zurückgepfiffen – man kann es verstehen, die fabelhafte Fleißarbeit sollte nicht der Zensur zum Opfer fallen.

Zumal etwas ganz anderes als die Religionskritik eindeutig den Schwerpunkt seiner persönlichen Überlegungen in diesem Band bildet, nämlich ein rein philosophisches, spekulatives Problem: das Problem der Einheit von Geist und Materie. Daß man hier überhaupt ein Problem sehen kann, mag uns heute befremdlich anmuten (wir stehen eben zu selbstverständlich auf dem Boden von Feuerbachs Materialismus). Doch damals taten sich die größten Philosophen tatsächlich schwer damit. Hegel zum Beispiel vermochte mit der Art und Weise, wie er in seinem System absolute Idee und Natur spekulativ zusammenbrachte, die Zeitgenossen nicht zu überzeugen. Schon Schelling hatte 1827 gespöttelt, man könne "schlechterdings nicht begreifen, was die Idee bewegen sollte, nachdem sie zum höchsten Subjekt erhoben, das Sein ganz aufgezehrt hat, doch sich wieder subjektlos zu machen, zum bloßen Sein herabzusetzen, und sich in die schlechte Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit zerfallen zu lassen"(6). Feuerbach konnte von Schellings Bemerkung nichts gewußt haben, da sie in München in einer erst viel später veröffentlichten Vorlesung fiel, doch in einer persönlichen Notiz aus der Zeit, als er von Berlin, wo er Hegels Vorlesungen angehört hatte (die Logik sogar zweimal), nach Erlangen zurückgekehrt war und seine Dissertation verfaßte, äußert er sich zur selben Zeit ganz ähnlich. Er notiert: "... das Andere der ‚Logik‘ [wird] nicht aus der ‚Logik‘, nicht logisch, sondern unlogisch deduziert, d.h. die ‚Logik‘ geht nur deswegen in die Natur über, weil das denkende Subjekt außer der ‚Logik‘ ein unmittelbares Dasein, eine Natur vorfindet und vermöge seines unmittelbaren, d.i. natürlichen, Standpunkts dieselbe anzuerkennen gezwungen ist." Auch hier eine hübsche Metapher: "Gäbe es keine Natur, nimmermehr brächte die unbefleckte Jungfer ‚Logik‘ eine aus sich hervor."(7)

Was ihn hauptsächlich beschäftigt, das ist ganz offensichtlich die Natur, und zwar in derselben Weise, wie sie einen Goethe oder die Romantiker (mit ihnen auch den frühen Schelling) bewegten. Feuerbach ist in seiner Kindheit und Jugend viel gewandert – bis nach Mannheim, auch Bruckberg lernte er so kennen –, er war offenbar ein leidenschaftlicher Naturliebhaber. Als er vom Philosophiestudium bei Hegel in Berlin zurückkommt, will er sich "in das direkte Gegenteil" der Philosophie stürzen, er schreibt sich deshalb in Erlangen in den Fächern Botanik, Anatomie und Physiologie ein(8). Dieses Studium scheint nicht weit zu gedeihen, doch seine Naturbegeisterung schlägt sich nieder im Willen, die Natur auch philosophisch ernst zu nehmen, sie aus dieser notorisch zweitrangigen, wenn nicht gar negativen Stellung zu befreien, in die sie nicht nur das Christentum, sondern auch mindestens zum Teil die Philosophie abdrängte. Im ersten Band seiner Geschichte der neuern Philosophie schlägt sich dies in der ausführlichen Kritik Descartes’ nieder: Dieser habe die Natur "als ein Totes, Mechanisches, Äußerliches" behandelt(9); die Natur sei bei ihm lediglich Quantität. Und weil infolgedessen Qualität nur dem Geist zukomme, bleibe es beim alten Geist-Materie-Dualismus. Wie Feuerbach sich die Versöhnung dieses dualistischen Gegensatzes denkt, entwickelt er in einem sehr sorgfältig durchkonstruierten Überleitungsteil (§§ 82 und 83) der fast ein eigenständiger Aufsatz ist. Hier findet sich ziemlich am Anfang der Satz: "Es muß daher die Idee Gottes verwirklicht werden"(10). Das Wort "verwirklicht" ist hervorgehoben, aber der Satz zeigt, daß Feuerbach sich die Lösung des ihn bewegenden Problems von einem neuen Gottesbegriff erhofft. Dieser Gott darf natürlich nicht der traditionelle Schöpfergott sein, d.h. ein Gott, der "hinter den Kulissen steht oder vielmehr nur die Rolle eines Souffleurs hat, der den beiden Substanzen [Geist und Materie] weiterhilft, wenn sie entweder für sich oder miteinander nicht mehr weiterkönnen und steckenbleiben", es muß ein Gott sein, der "selbst, und zwar als Hauptheld des Stücks, auftritt", so daß "der Grund oder die Ursache aus den dunklen Hintergrunde, wo sie nur eine schaffende oder erhaltende oder mitwirkende Macht ist, an das Licht hervorkommt und einwärts in das Herz der Dinge sich kehret"(11). In Spinozas Pantheismus findet Feuerbach diesen Gottesbegriff verwirklicht – womit er in seiner Zeit keineswegs allein dasteht: Kant, Hegel, Goethe, Hölderlin und wohl die meisten aufgeklärten Geister der Epoche hingen mehr oder weniger einer solchen "pantheistischen" Gottesvorstellung an. Nur daß Feuerbach sich sehr explizit zu seinem Pantheismus bekennt und ihn radikal zu Ende denkt.

In welchem geistig-philosophischen Universum sich Feuerbach zu dieser Zeit bewegte, sagt er selber knapp zehn Jahre später: In den Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie, einem kurzen, thesenartigen Text, der aber zu seinen wichtigsten Schriften überhaupt gehört, wird er 1842 schreiben: "Der "Pantheismus" ist die notwendige Konsequenz der Theologie (oder des Theismus) – die konsequente Theologie." Und in einer Fußnote dazu merkt er an, man könne sich "über den notwendigen Übergang der halben Theologie zur ganzen, d.h. zum Pantheismus" ein Bild machen, wenn man dieses Kapitel seines ersten philosophiegeschichtlichen Werkes lese, von dem eben die Rede war.(12) Feuerbach liefert am eigenen Fall die unfreiwillige Demonstration dafür, daß dieser philosophische Pantheismus einerseits eben das ist, was vom Gottesglauben übrig bleibt, wenn die Ratio alles "Vernunftwidrige" von ihm weggenommen hat, nämlich nichts als ein leeres Postulat, eine abstrakte Idee, die man ohne weiteres auch ganz weglassen könnte – nur stünde man dann eben als Atheist da, und ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus hatte im damaligen Deutschland noch fatale Folgen. Andererseits wollte Feuerbach zu dieser Zeit diesen Schritt auch innerlich nicht tun: Diese philosophische Gottesidee vergöttlichte ja auch die Natur, machte sie zur "Qualität", und er fühlte sich bestätigt von den italienischen Naturphilosophen der Renaissance, mit denen er sich zunehmend beschäftigte (Giordano Bruno fasziniert ihn besonders, er ist für ihn "inniger Freund" und "nächster Geistesverwandter"(13)). Objektiv – und es gehört zu Feuerbachs philosophischen Hauptleistungen, dies aufgezeigt zu haben – ist dieser als "Pantheismus" bezeichnete abstrakte Gottesbegriff das Resultat des Wahrheitsverständnisses des deutschen Idealismus. Und dieses Wahrheitsverständnis stellt Feuerbach zu dieser Zeit noch keineswegs in Frage, im Gegenteil: Auf die Universalität des Denkens – die absolute Idee, der absolut denkende und existierende Geist – setzt er zu dieser Zeit noch alle Hoffnung, denn dieses Denken ist das Vereinigende, das, was die Vereinzelung des Individuums überwindet: Was das Individuum erkennt, sofern es nur streng logisch philosophiert oder "spekuliert", ist objektive Wahrheit "an sich", die alles Subjektive überwunden und abgestreift hat. Von der Motivation her hat Feuerbachs zähes Festhalten an diesem Wahrheitsverständnis also auch noch andere Wurzeln: Den Glauben, daß das Vernunftdenken Universalität stiftet, teilt er mit der französischen Aufklärung.

Die Natur als alter ego des Geistes

Alle diese Forderungen und Postulate haben freilich einen stark theoretischen Anstrich. Rückblickend wird Feuerbach dies selbst anerkennen. Und er wird mehrfach betonen, daß ihn erst die konkrete und ausgiebige Befassung mit der Natur wirklich weiterbrachte. Nach seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung findet er endlich "Raum und Zeit", sich "sinnlich mit den sinnlichen Dingen zu beschäftigen": Mehrere Jahre lang widmet er sich intensiven naturkundlichen Studien, betreibt sogar "Anatomie, besonders des Hirns ... an einer Menge von verschiedenen Tierarten... nach den Vorbildern trefflicher Anatomen"(14). 1836 gibt er die letzten Hoffnungen auf eine verbeamtete Professur auf, er verabschiedet sich auch äußerlich vom akademischen Philosophiebetrieb und zieht 1837 aufs Land. Sein philosophiegeschichtliches Projekt, das wohl auch seine akademische Karriere befördern sollte, ist ihm offenbar nicht mehr so wichtig. Er betreibt es zwar weiter, widmet aber dem Philosophen, der als nächster an der Reihe ist, nämlich Leibniz, gleich einen ganzen Band.(15) Weiterer Verstoß gegen die akademischen Regeln: Das Buch befaßt sich zu drei Vierteln mit einem einzigen Thema, nämlich dem, wie Feuerbach sich ausdrückt, "Leibnizschen Verständnis der Materie". Mit außerordentlichem Arbeitsaufwand trägt er die bei Leibniz weit verstreuten Äußerungen zur Monadenlehre zusammen und ordnet sie thematisch so, daß auch der heutige Leser das Buch noch mit großem Nutzen liest: Durch das Mosaik, das Feuerbach aus Leibniz-Zitaten zusammenfügt, wird offenbar, daß Leibniz’ Monadenlehre in erster Linie eine hoch geniale physikalische Theorie ist, die in manchem die heutige theoretische Physik vorwegnimmt: Die Monaden sind der theoretische Nachweis, daß nur eine Atomtheorie im heutigen Sinne eine schlüssige Erklärung der Körper und der Bewegung zu liefern vermag. Diesen Zusammenhang konnte Feuerbach natürlich nicht erkennen, und er knüpft an eine Analogie an, die Leibniz mangels differenzierterer Begriffssysteme machen muß: Weil seine Monaden gleichsam die theoretischen Platzhalter für unsere Atome sind, betont Leibniz deren rein "formale", d.h. theoretische Natur (er bezeichnet sie als "metaphysische Punkte", wir würden heute vielleicht sagen "Energiepunkte"). Und weil seine Zeit alles, was nicht ausgedehnte Materie ist, nur als Geist oder zumindest Seele begreifen kann, sagt er, die Monaden seien "den Seelen analoge Wesen". Diese Analogie nun, die bei Leibniz eine Art Verlegenheitslösung ist, macht Feuerbach zum Grundaxiom eines Weltbildes, in welchem die Seele "alle Wahrheit, Wesenhaftigkeit und Wirklichkeit" ist: "Alles, was du fühlst, hörst, siehst, ist eine Apparition, eine Vision der Seele."(16) Eine weitere von Leibniz benützte Analogie, die von der "konfusen Vorstellung", kraft welcher jede Monade von allen anderen Monaden affiziert wird, läßt ihn noch einen wichtigen Schritt weitergehen: Da die Monade ständig auf alle anderen bezogen ist, hat sie die Vorstellung eines alter ego, eines anderen Ichs, und diese Vorstellung ist "keine gleichgültige wie die von äußerlichen Dingen; diese Vorstellung ist vielmehr höchst sanguinischer und leidenschaftlicher Natur". Die Materie ist also eine "heftige, lebendige, affizierende Vorstellung".(17) Das wiederum veranlaßt ihn, in zum Teil seitenlangen Anmerkungen, nicht nur über "objektive", sondern auch über "subjektive" Empfindungen, also Gefühle, zu räsonnieren, denen die Bedeutung eines "Naturlauts" zukomme(18) – das sind schon keine "Spekulationen" mehr, sondern feine, "anthropologische" Beobachtungen: Feuerbach hat sich ein ganzes Stück weit von der rein abstrakten Spekulation seiner Anfangszeit entfernt. Und obwohl er in der Zwischenzeit in Rezensionen und in einer kleineren Schrift als Verteidiger Hegels aufgetreten ist, hat er sich in zwei wichtigen Punkten bereits von Hegel entfernt. Erstens wertet er sehr entschieden die italienischen Naturphilosophen der Renaissance auf, die für Hegel lediglich den Stellenwert einer Vorstufe zur modernen Philosophie hatten: Feuerbach hingegen findet bei ihnen einen der beiden Standpunkte der neuzeitlichen Philosophie verwirklicht, nämlich den "poetischen oder anthropologischen" Standpunkt – im Gegensatz zum "Standpunkt der Trennung, des Kampfes, des Unfriedens", auf dem die kartesianische Philosophie steht(19). Zwar sucht Feuerbach die Vermittlung zwischen den gegensätzlichen Standpunkten immer noch in der idealistischen oder "pantheistischen" unendlichen Substanz, doch praktisch hat er Neuland betreten: Er nimmt, wie Alfred Schmidt es formulierte, "die praktisch-alltägliche Nötigung, Gegenstände unabhängig vom Bewußtsein vorauszusetzen, als selber theoretischen Sachverhalt hin."(20) Feuerbach spricht das selbst sehr deutlich in einer Anmerkung aus, die er in der überarbeiteten Ausgabe der Leibniz-Monographie von 1847 neu einfügt. Er schreibt dort: "... die andere Monade, der andere Mensch erweist sich, obwohl nur Gegenstand meiner Sinne, als ein wesensgleiches Wesen, als ein Ich, wie ich selbst bin, als alter ego. Ich komme daher durch diese Anschauung auf eine neue Wahrheit, die ich auf dem Standpunkt meines monadischen Ichs gar nicht ahndete, auf die Wahrheit des sinnlichen Seins und Wesens."(21)

Die "wissenschaftliche Vernunftbegeisterung" als aufklärerische Position

Feuerbachs philosophischer Standpunkt ist zum Zeitpunkt der Abfassung der Leibniz-Monographie sehr komplex, zum Teil sogar widersprüchlich. Aus heutiger Sicht ist interessant, daß seine vielfältigen Bemühungen, den idealistischen Wahrheitsbegriff zu rechtfertigen, das grundlegende Mißverständnis deutlich werden lassen, welches zur idealistischen Gleichsetzung der "Idee" mit absoluter Wahrheit, der alleinigen Wahrheit, führte: Eine in der Physik erfolgreiche Rationalität wurde zur Rationalität überhaupt, schlimmer noch, zur "Folge des inneren Selbstbewußtsein des Geistes" umgedeutet. Theorie ist nicht Erklärungsversuch, sondern "Selbstbeschauung des Geistes, seine Vertiefung in sich selbst"(22).

Doch nun erhält diese Vermengung von philosophischer Spekulation und wissenschaftlicher Rationalität auch eine aufklärerische Zuspitzung. Der "Standpunkt der theoria" wird für Feuerbach zum Standpunkt der Fortschrittlichkeit und Aufgeklärtheit überhaupt. Von ihm aus bezieht er Stellung gegen reaktionäre geistige Strömungen der Zeit, insbesondere gegen die von Schelling ausgehende "positive Philosophie". Schon 1835 hatte er in einer Rezension indirekt diese, wie er in einem Brief an seine spätere Frau schrieb, "immer verderblicher um sich greifende Partei" attackiert. Jetzt, nachdem die Fleißarbeit über Leibniz in Druck gegangen ist, rezensiert Feuerbach begeistert das Werk eines Freundes mit dem Titel Die Idee der Freiheit und der Begriff des Gedankens. Er nimmt dieses Buch, in dem die "wissenschaftliche Vernunftbegeisterung" als "tiefste, mächtigste Freiheit"(23) gefeiert wird, zum Anlaß, "die Freiheit des Gedankens, die Freiheit der Gesinnung"(24) in den Mittelpunkt der philosophischen Beschäftigung zu stellen. Dieses Anliegen wird ihm wichtiger als alles andere, er verteidigt deshalb auch Hegel nicht mehr, er äußert sogar die erste explizite Kritik an ihm: "Über der Objektivität vernachlässigte der Mann die Subjektivität und setzte sie in mehrfacher Beziehung zurück." Und: "Gerecht war darum der Krieg gegen Hegel in dieser Beziehung, gerecht ist der Krieg gegen jedes starre Festhalten seines Systems. Notwendig ist die Freiheit, notwendig die Philosophie, aber nicht Hegel, nicht Fichte, nicht Kant."(25)

Die aufklärerisch verstandene geistige Freiheit nimmt im dritten philosophiegeschichtlichen Werk praktisch den ganzen Raum ein. Es ist Pierre Bayle gewidmet(26), von dem Feuerbach noch im Vorwort der Leibniz-Monographie befunden hatte, er brauche ihn nicht eigens zu würdigen, da eine Darstellung seines Denkens "außer dem wesentlichen Zwecke seiner Geschichte" liege. Dabei hatte er sich bei seinen Leibniz-Studien eingehend mit Bayle befassen müssen, da Leibniz seine Theodizee ausdrücklich als Entgegnung auf Bayles These von der Unvereinbarkeit der Dogmen mit der Vernunft geschrieben hatte. Ganz offensichtlich hat sich nun Feuerbachs Interesse verlagert. Das zeigt sich auch äußerlich: Er reiht das Buch über Bayle, diesen "dialektischen Guerillashäuptling aller antidogmatischen Polemiker", nicht in seine Geschichte der neuern Philosophie ein (die er überhaupt nicht mehr fortsetzen wird) und drückt sich auch nicht mehr mit der Gemessenheit des Philosophiehistorikers aus. Vielmehr erlaubt er sich, "selbst auch ein Wörtchen mit drein zu schwatzen"(27) – und das kräftig: Die dem Haupttext nachgestellten Anmerkungen machen fast ein Drittel des Buchumfanges aus. Feuerbach wird nun wirklich polemisch gegen Christentum und Theologie und schreckt auch vor krasser Schwarzweißmalerei nicht zurück. Er zieht übrigens eine interessante Parallele zwischen Bayles Biographie und seiner eigenen: Auch Bayle sei "nicht im geringsten darüber betrübt" gewesen, daß er seine Professur in Rotterdam verlor (wegen seines Pamphlets La France toute catholique...), sondern "vielmehr entzückt über seine jetzt völlig unabhängige Lage". Und diese "Freiheit von einem bestimmten Stande, die Amt- und Standeslosigkeit" habe seinen Zweifeln eine besondere Qualität verliehen: Sie seien "dem Stande der Freiheit, der stets auch der Stand der Kritik ist, gemäße Handlungen, Zweifel von Profession".(28)

Pierre Bayle liefert Feuerbach den Anlaß, seine aufklärerischen Positionen in aller Breite auszuführen. Seine Argumentation folgt im wesentlichen den Themen, die in den bisherigen Schriften schon mehr oder weniger deutlich ausgeführt wurden. Er spitzt alles nur wesentlich polemischer zu: So wirft er dem Christentum nicht nur Lebensfeindlichkeit vor, er beschuldigt es auch, mit seinem Dualismus zu den unausweichlichen Übeln noch überflüssige hinzugesellt und außerdem der Kunst und der Wissenschaft den Boden entzogen zu haben. Er scheut auch nicht vor drastischen Vergleichen zurück: Der Glaube der Christen habe seinem Gott Menschenopfer dargebracht – der Unterschied zum Heidentum reduziere sich darauf, daß dieses "die Leiber, der Glaube aber die Seelen"(29) geopfert habe. Und er stürzt sich förmlich auf Bayles (für die französische Aufklärung äußerst wichtige) These, daß zwischen religiösem Bekenntnis und ethischem Verhalten keine Wechselwirkung festzustellen sei, daß sich also eine Gesellschaft von Atheisten in ihrem ethischen Verhalten nicht von einer religiös bestimmten Gesellschaft unterscheiden würde, sofern in ihr dieselben Wertordnungen und Gesetzen gälten; die religiös bestimmte Gesellschaft mache sich sogar zusätzlicher Verbrechen schuldig, indem sie Andersdenkende verfolge (Bayle wußte, wovon er sprach: er war Hugenotte). Für Feuerbach ist klar, daß die Wirkung der "positiven Religion" auf die Ethik nicht nur indifferent, sondern ausgesprochen negativ ist: Sie entfremde "das Gemüt dem sittlichen Geiste"(30) und reiße mit dem Dogma der Grundverdorbenheit der menschlichen Natur "die Ethik mit der Wurzel aus"(31).

Das Rückgrat von Feuerbachs Argumentation ist wieder der theoria-Standpunkt, der sich in der Leibniz-Monographie herausgeschält hat: Seine Polemik basiert auf dem Gegensatz zwischen dem "Geist der Theologie" und dem "Geist der Wissenschaft". Feuerbach widmet diesem Gegensatz ein umfangreiches einleitendes Kapitel. Hier greift er wieder einmal zur Metapher, die rhetorisch sehr wirkungsvoll seine Haltung zum Ausdruck bringt, aber wohl unbestreitbar einen Nerv der Sache trifft:

Solange ... die Theologie herrschte, war der wissenschaftliche Geist ein unterdrückter Geist. Selbst noch in der spätern Zeit, wo die Orthodoxie mehr nur noch eine respektierte als herrschende Macht war, waren dem Geiste die Flügel gestutzt. Er flatterte nur wie ein Vogel im Käfig hin und her, ohne sich frei in die Lüfte erheben zu können. Er war befangen, zaghaft, schüchtern, unredlich gegen sich selbst, voller Verlegenheiten und Widersprüche mit sich, voller Klauseln, Exzeptionen und falscher, nicht zur Sache gehöriger Rücksichten; alle Forschungen waren limitiert, nur bis zu einer gewissen, dem Gegenstande nach willkürlichen Grenze freigegeben; kein Gedanke wurde gefaßt, keiner ausgesprochen, ohne daß sorgfältigst untersucht wurde, ob er ortho- oder heterodox; überall wurde die Religion mit ins Spiel gezogen, kein Gegenstand unabhängig, keiner an und für sich, keiner in seinem eignen Interesse, sondern nur im Interesse der Theologie oder wenigstens mit Bezugnahme darauf betrachtet, keine Lehre nach sich selbst, sondern nur nach dem etwaigen Gewinn oder Nachteil, den der Glaube daraus ziehen könnte, beurteilt und geschätzt.(32)

Feuerbach findet die Klarsicht bemerkenswert, mit der Bayle schon im 17. Jahrhundert erkannte: La Théologie nuit à la Philosophie(33) – "Die Theologie schadet der Philosophie". Er diagnostiziert bei ihm eine "förmliche Entzweiung mit dem Glauben". "Wie ist es möglich", fragt er, "daß man es aufrichtig mit dem Glauben meint, wenn man gegen ihn, der doch einmal nicht umhin kann, mit der Vernunft unter einem Dache zu leben, die Vernunft aufhetzt, indem man nachweist, wie er ihr überall widerspricht? Heißt das nicht am Ende den ganzen Menschen gegen ihn aufwiegeln und ihm abspenstig machen?"(34) Wieder bemüht Feuerbach eine rhetorische Metapher, diesmal mit moralischem Anstrich: "Die Stimme der Vernunft gilt dem Orthodoxen nur für die Stimme seiner Magd, die wohl in den gemeinen Lebensangelegenheiten, aber nicht bei den höhern Dingen mitzusprechen berechtigt ist. Oder höchstens hat die Vernunft für ihn die Bedeutung einer Konkubine, der er nur bei der Nacht, im Rücken seines Glaubens, im Widerspruch mit seinen Geboten, darum mit angstbeklommenem Herzen zu Zeiten, wo ihn eben das natürliche Gelüste überwältigt, flüchtige Besuche macht."(35)

Bei Bayle sieht Feuerbach schon ein ehrliches Liebesverhältnis: Die Vernunft sei bei ihm "die Lebensgefährtin, die Freundin seiner Seele, die Gattin, mit der ihn Übereinstimmung der Neigung, der Denkart, des Charakters verbunden hat". Dieser Vergleich deutet eine weitere Argumentationslinie an: Der moderne Glaube sei Unehrlichkeit. "Wo der Glaube ein wahrer ist", schreibt er, "da ist er auch ein natürlicher, da versteht ihn der Mensch, da ist er ihm nichts Fremdes, da denkt er auch in ihm oder lebt ebenso in ihm fort. Aber wo der Mensch bemerkt und sagt, daß der Glaube der Vernunft widerspricht, da ist er aus dem Glauben heraus, da hat sich die Vernunft von dem Glauben losgewunden..." Den Vorwurf den Unehrlichkeit macht Feuerbach generell dem Glauben "der neuern Zeit ... in den denkenden Menschen"(36). Dieser Glaube sei "in dem Menschen selbst ein dem Menschen äußerlicher, darum nur formeller Glaube..., ein Glaube sich selbst zum Trotze und Zwange – ein von empirischen Instanzen (wie z.B. von der Geburt) aufgedrungener Glaube. Man glaubte, was man nicht glaubte. Der Glaube war ein Widerspruch. Er war subjektiv – da, wo er noch die höchste Bedeutung hatte – eine Pietät, objektiv eine Heuchelei."(37) Daß der Glaube bei Bayle subjektiv "höchste Bedeutung" hatte, bezweifelt Feuerbach nicht, allerdings sei dieser Glaube eine "freiwillige Abstinenz und Pönitenz seiner Vernunft": Bayle sei "ein intellektueller Asket, ein geistiger Flagellant" gewesen, der statt des stachligen Gürtels, den Pascal um den Leib trug, mit der "Kasteiung" des Glaubens "die Regungen seiner geistigen Natur im Zaume" gehalten habe.(38)

Die Aufklärung erfaßt auch die idealistische Philosophie

Durch dieses Feuer der Polemik gegen denkerische Unredlichkeit gerät bei Feuerbach der Standpunkt der theoria mehr und mehr zum Habitus, zur persönlichen Einstellung des Philosophen, der prinzipiell skeptisch gegen alles ist, was nur hergebrachtes Denken oder gar Dogma ist. Und hier klingen nun wirklich neue Töne an: Nach einem langen Exkurs über Descartes (dem er jetzt wesentlich gerechter wird als im ersten Band seiner Geschichte) schreibt Feuerbach: "Der Geist einer Philosophie ist allein ihr Wesen, ihr wahrer Ertrag"(39). Bei Descartes sei dieser Geist "der Geist des Denkens überhaupt, der Geist der Besonnenheit, der Ungläubigkeit, der Freiheit, der Prüfung, der Untersuchung, der Unterscheidung"(40) gewesen. Das ist einerseits das panrationalistische Bekenntnis, das wir schon kennen – Feuerbach wird es ein knappes Jahrzehnt später selbst so sehen(41) –, andererseits entwickelt aber die Polemik eine Eigendynamik. Eine fünf Seiten lange Anmerkung zu dieser Descartes-Passage beweist, daß die Predigt bei ihm selbst zu wirken beginnt. In dieser Anmerkung reduziert er nämlich den Idealismus faktisch auf eine kritische Funktion. Er schreibt: "Nur die kritisch-genetische Philosophie ist die wahre Philosophie. Eine unkritische Philosophie ist keine Philosophie, so kommod und gemütlich sie auch ist."(42) Kommod und gemütlich, was, oder vielmehr wer kann damit gemeint sein? Der Verdacht, daß es ein Seitenhieb auf die Hegelschulen ist – es gibt ja eine konservative und neuerdings auch eine "linke", die sogenannten "Junghegelianer" um die Hallischen Jahrbücher, für die Feuerbach Beiträge schreibt – wird durch den nachfolgenden Text bestätigt. Feuerbach anerkennt und verteidigt zwar Hegels Leistung, schreibt aber dann: "Was man heutiges Tages spekulative Philosophie nennt, ist größtenteils das unsauberste, unkritischste Ding von der Welt. Es gibt nur ein Fundament, ein Gesetz der Philosophie; es heißt Freiheit des Geistes und Freiheit der Gesinnung. Systeme sind uns nicht nötig, aber Recherchen, aber freie, kritisch genetische Untersuchungen tun uns not." Er gibt auch gleich ein Beispiel für solche Recherchen: "Statt über die Trinität, über die Inkarnation zu spekulieren oder gar die Dogmen der Kirche, in der ihr erzogen und geboren seid, als die einzig wahren und vernünftigen zu demonstrieren, untersucht vielmehr das Wesen der Religion, ihre differentia specifica und den Ursprung ihrer Lehren, aber nicht nur den historischen, wie der Rationalismus, der ebendeswegen einseitig ist, sondern den geistigen, inneren Ursprung."(43)

Eine solche Recherche wird Feuerbach bekanntlich selbst demnächst anstellen – oder er hat schon damit begonnen –, indem er das Wesen des Christentums untersucht. Doch bleiben wir einstweilen noch bei der spekulativen Philosophie. Wie schon erwähnt, hatte sich die Hegelschule gespalten. Einer Gruppe von radikalen Intellektuellen warf der "althegelianischen" Societät und ihren Jahrbüchern vor, sich mit der Restauration zu arrangieren. Als "Junghegelianer" scharten sie sich um die von Arnold Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbücher. Feuerbach war von Anfang an um Mitarbeit gebeten worden, und er hatte bereits mehrere Beiträge geliefert. Kurze Zeit nach Abschluß der Bayle-Monographie erhält nun Feuerbach von Ruge eine Anfrage, die ihn in Verlegenheit bringt. Er sollte nämlich ein Buch würdigen, in dem Hegels Philosophie zur absoluten Wirklichkeit der Idee erklärt wird. Peinlicherweise ist der Autor dieses Buches, ein gewisser Karl Theodor Bayrhoffer, auf der Seite der Junghegelianer engagiert, d.h. von der eigenen Partei. Feuerbach scheint die Sache hinausgeschoben zu haben, denn nach einem Dreivierteljahr fragt Ruge dezent an, was denn nun mit der Rezension sei. Allerdings findet sich in dem um das Jahresende 1838 entstandenen Aufsatz mit dem Titel Zur Kritik der "positiven Philosophie" eine Anspielung, die offensichtlich auf Bayrhoffers Buch gemünzt ist. Er schreibt: "Die Philosophie muß allerdings über die Hegelsche Philosophie hinausgehen. Es ist spekulative Superstition, an eine wirkliche Inkarnation der Philosophie in einer bestimmten historischen Erscheinung zu glauben." Und er schließt mit der Mahnung: "Die spekulative Philosophie Deutschlands lasse ... das Beiwort ‚spekulativ‘ fahren und werde und nenne sich in Zukunft Philosophie schlechtweg – Philosophie ohne Bei- und Zusatz. Die Spekulation ist die betrunkene Philosophie. Die Philosophie werde daher wieder nüchtern. Dann wird sie dem Geiste sein, was das reine Quellwasser dem Leibe ist." In einer Fußnote zum Wort "spekulativ" schränkt Feuerbach zwar ein, er meine hier nicht Hegel, sondern eine "Wendung, die die spekulative Philosophie teils schon vor Hegel, teils seit ihm genommen und die allerdings Hegel mit veranlaßt hat".(44)

Doch auch diese Einschränkung fällt nur wenige Monate später. Statt der Bayrhoffer-Rezension, die Ruge ein zweites Mal anmahnt, liefert Feuerbach einen Aufsatz, von dem er behauptet, er sei "unwillkürlich, rein zufällig entstanden"(45). Der Titel lautet: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. Hier schreibt Feuerbach gleich nach den ersten einleitenden Sätzen: "Wenn ich sage: die deutsche spekulative Philosophie, so verstehe ich in specie [insbesondere] darunter die gegenwärtig herrschende – die Hegelsche Philosophie."(46) Er geht nun tatsächlich – ohne ihn freilich beim Namen zu nennen – kurz auf Bayrhoffer und seine Behauptung ein, die Hegelsche Philosophie sei "die absolute Wirklichkeit der Idee der Philosophie" und entgegnet ihm mit einer Argumentation, die sich schlicht auf den gesunden Menschenverstand beruft: Es sei barer Unsinn, an eine Inkarnation der Philosophie zu glauben, denn gäbe es eine Inkarnation, würde sofort die Zeit stillstehen. Außerdem: "Denken wir uns nur auf einige Augenblicke in die Zukunft der nächsten Jahrhunderte hinein! Wird uns dann nicht schon der Zeit nach die Hegelsche Philosophie eine fremde, eine überlieferte Philosophie sein?"(47) Auch die Hegelsche Philosophie sei eine Zeiterscheinung, d.h. auf bestimmten Voraussetzungen basierend, auch wenn sie sich selbst als voraussetzungslos vorkomme.

Nun entwickelt Feuerbach eine Kritik des Idealismus insgesamt. Deren Kernaussage ist: Hegel habe die Form zum Wesen gemacht. Das ganze herrliche Gebäude seiner Logik sei nämlich nicht Wahrheitsfindung, sondern lediglich Demonstration für den Außenstehenden, es diene also lediglich der Vermittlung, der Äußerung von Gedanken, die Hegel bereits zuvor im Kopf gehabt habe: Es sei ihm von vornherein klar gewesen, daß die "absolute Idee" am Ende herauskommen müsse, wenn er das "reine Sein" an den Anfang setze. Ein entsprechend heller Kopf könne seiner Demonstration auch vorauseilen und brauche deshalb das Buch gar nicht zu lesen, um zum selben Ergebnis zu kommen. Deshalb seien seine Demonstrations- und Schlußweisen keine "Formen des innerlichen Denk- und Erkenntnisaktes", sondern lediglich "Mitteilungsformen"(48). Die absolute Identität zwischen der Idee und der objektiven Wahrheit sei nämlich für Hegel eine Prämisse gewesen, von der er ausgegangen sei, die Objektivität des Absoluten sei für ihn "schlechtweg eine objektive Wahrheit"(49) gewesen.

In den schon erwähnten Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie wird Feuerbach einige Jahre später – in Analogie an seine Erklärung der Religion als Verabsolutierung des menschlichen Wesens – diese "genetische" Idealismus-Kritik ausbauen: So, wie das Wesen der Religion "das transzendente, außer den Menschen hinausgesetzte Wesen des Menschen" ist, so ist "das Wesen der ‚Logik‘ Hegels das transzendente Denken, das Denken des Menschen, außer den Menschen gesetzt"(50). Noch deutlicher wird er in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft: "Das Wesen der spekulativen Philosophie ist nichts andres als das rationalisierte, realisierte, vergegenwärtigte Wesen Gottes."(51) Das heißt: Hegels absoluter Geist ist nichts anderes als ein säkulärer Herrgott, der über der Welt steht und die Welt von einem außermenschlichen, außerirdischen Standort aus betrachtet – genau wie der christliche Herrgott, der irgendwo im Himmel thront.

1939, als Feuerbach die Kritik der Hegelschen Philosophie schreibt, steht einstweilen noch ein anderes Kritikmotiv im Vordergrund: Hegels Philosophie und der ganze Idealismus überhaupt hätten kein echtes Erkenntnisinteresse, sondern nur ein Interesse an der Form, am Systematischen, an der Darstellung, die zum Selbstzweck geworden sei. Feuerbach billigt zwar der systematischen Darstellung durchaus einen Eigenwert zu: Der Systematiker sei ein Künstler, die Geschichte der philosophischen Systeme sei die Bildergalerie der Vernunft, ihre Pinakothek, und Hegel sei "der vollendetste philosophische Künstler"(52) gewesen. Doch wenn dieser relative Zweck zum Endzweck geworden sei, könne die Philosophie allenfalls kritisch, nicht aber genetisch-kritisch sein, denn sie stelle nur scheinbar Fragen, nur der Form halber. Und dagegen wendet sich nun der Aufklärer Feuerbach: "Jedes System", schreibt er, "das nicht als bloßes Mittel erkannt und angeeignet wird, beschränkt und verdirbt den Geist, denn es setzt das mittelbare, formale Denken an die Stelle des unmittelbaren, ursprünglichen, materialen Denkens"(53).

Feuerbach beklagte sich später, daß dieser Aufsatz von den Zeitgenossen überhaupt nicht beachtet worden sei.(54) Dem ist teilweise heute noch so, selbst neuere Sekundärliteratur läßt ihn einfach aus, obwohl er mit Sicherheit zu den Schriften Feuerbachs gehört, die heute noch unbedingt lesenwert sind. Ein Grund für diese mangelnde Beachtung mag sein, daß der Ton dieser Schrift ungewohnt leise ist: Kaum Polemik, sogar die Ironie in der seitenlangen Würdigung Schellings ist zurückhaltend. Die Argumentation ist so differenziert und behutsam, daß man nie den Eindruck hat, Feuerbach "sprenge" hier das Hegelsche Systems. Und doch ist es ein Sprengen: Feuerbach kritisiert nicht Fehler oder theoretische Mängel innerhalb der idealistischen Spekulation, er zeigt auf, daß diese Art von Philosophie insgesamt im Grunde nur ein Spiel ist. Diese Philosophie ist "kommod, gemütlich", weil man sich mit den wirklichen Problemen nicht wirklich beschäftigen muß.

Auch mit dieser Aufklärerarbeit, mit der er die idealistische Verabsolutierung des Denkens entmystifizierte, hat Feuerbach so definitive Arbeit geleistet, daß wir ihre befreiende Wirkung kaum kaum noch nachvollziehen können. Aber man nehme einmal Hegels Logik zur Hand, lese sie ganz unvoreingenommen, nehme alles wörtlich so, wie es da steht, ohne irgendwelchen rätselhaften Hintersinn zu suchen – man wird nur noch den Kopf schütteln... Jedenfalls hat nach Feuerbach kein großer Philosoph mehr Systeme gebaut: Es kamen Marx, Kierkegaard, Nietzsche, Freud. Keiner von ihnen hat sich mit der absoluten Idee oder gar dem Weltgeist beschäftigt, dafür aber sehr viel, sogar ausschließlich mit dem Menschen.

Ein Lehrstück

Feuerbachs philosophischer Entwicklungsgang ist ein eigenartiges philosophisches Abenteuer, im Grunde ein bemerkenswertes Lehrstück. Von außen gesehen – und das hat nicht nur damals etliche Zeitgenossen, sondern auch heute noch manche Feuerbach-Forscher irritiert – mag dieser Entwicklungsgang verwirrend erscheinen, voller Sackgassen und Kehrtwendungen. Feuerbach selbst versicherte hingegen mehrfach, seine Entwicklung sei sehr kontinuierlich verlaufen. Ich glaube, man kann sie sehr wohl nachvollziehen, wenn man nicht nur innerphilosophische Motive berücksichtigt. Angefangen hatte es in seiner Jugend einerseits mit der Begeisterung für die Bibel, andererseits mit der in der Familie offenbar selbstverständlichen Parteinahme für den gesellschaftlichen Fortschritt. Die Begeisterung für die Religion verwandelte sich zur Begeisterung für die Philosophie, als Feuerbach durch das Heidelberger Theologiestudium seine jugendlich-konfuse Religionsbegeisterung gewissermaßen auslotete. Die Begeisterung für die Philosophie hielt wesentlich länger an, wurde aber auch schon früh angefochten durch die Aufmerksamkeit auf die Natur. Den von Anfang an empfundenen Widerspruch zwischen der idealistischen Philosophie und dem intensiven Naturerlebnis, die existentiell erfahrene Fremdheit zwischen den beiden Polen seines Interesses, versuchte er lange Zeit innerhalb der Bahnen der idealistischen Philosophie zu versöhnen – wobei er sich im immer entlegeneren Denkmodellen verlor, wie der "psychologische Idealismus" der Leibniz-Monographie beweist.

Der Ausweg kam von einer Seite her, die weder seine spekulativen Gedankengänge noch die Anatomieversuche an Tierhirnen erwarten ließen. Er kam durch eine Auseinandersetzung, die von außerhalb seiner Studierstube an ihn herangetragen wurde. Schon 1835, als er noch ganz mit naturkundlichen Studien und mit Leibniz befaßt war, hatte er für die Berliner Jahrbücher ein Werk zu rezensieren, das ihn "wegen seines verderblichen Inhalts, seiner miserablen Mystik, seiner Gedanken und doch unverschämten Polemik gegen die Philosophie, eine besondere und strenge Kritik zu verdienen"(55) schien. Es handelte sich um einen Band der Rechtsphilosophie von Friedrich Julius Stahl. Der Staatsrechtler Stahl war damals Professor in Erlangen, offenbar ein aufstrebendes Talent, denn 1840 erhielt er einen Lehrstuhl in Berlin, wo er als Staatsrechtler und Theoretiker des preußischen Konservativismus direkten Einfluß auf die Politik Friedrich Wilhelms IV. gewann; er war ein Vertreter jener sich auf Schelling berufenden "positiven Philosophie", die als ziemlich vage Position wohl so etwas wie eine intellektuelle Mode der Restauration abgab (es ließ sich damit so ziemlich jeder bestehende Zustand rechtfertigen, bis hin zum Dienstbotenstand). Feuerbach tritt in dieser äußerst polemisch gehaltenen Rezension zum ersten Mal als Aufklärer auf. Es folgt eine zwei- oder dreijährige Pause – es ist die Zeit seiner intensiven Naturstudien, der Etablierung in Bruckberg und der Arbeit am Leibniz – doch dann folgen die aufklärerischen Polemiken immer kürzer aufeinander. Er schreibt den Bayle, der im Grunde nur aufklärerische Auseinandersetzung ist, außerdem drei Streitschriften, die sich alle gegen die "Christentümler der Gegenwart"(56) richten. Er greift also zum ersten Mal in eine gesellschaftliche Auseinandersetzung ein, und zwar mit einer Heftigkeit und Schärfe, die vom Voltaireschen écrasez l’infâme nicht mehr weit entfernt ist, auch wenn sich seine Polemik nicht gegen die Kirche, sondern gegen die "Theologie" und gegen "theologisierende" philosophische Strömungen richtet.

Dieses Engagement nun scheint ihn aus seinen Bemühungen, den Gegensatz zwischen Geist und Natur philosophisch zu versöhnen, herauszureißen. Zumindest zieht es eine Weile lang seine Hauptaufmerksamkeit davon ab. Doch das aufklärerische Engagement hat noch eine andere Folge, die sich als bedeutend produktiver erweisen wird: Feuerbachs Idealismus reduziert sich durch das läuternde Feuer des aufklärerischen Engagements mehr und mehr auf eine geistige Grundhaltung, auf den "Geist der Wissenschaft", in letzter Konsequenz also auf die "Freiheit des Geistes und die Freiheit der Gesinnung". Er merkt dabei immer deutlicher, daß auch der Hegelsche Idealismus nicht nur vom Verfall dieses Geistes "angehaucht" ist, sondern auch einer wahrhaft kritischen – "genetisch-kritischen" – Dynamik entbehrt. Die gegen Ende der dreißiger Jahre mehr und mehr ausartende "Hegelei", jene "trunkene Philosophie", gegen die er sich zunächst in Anmerkungen wendet, bestärkt ihn in seiner Skepsis gegen alle spekulative Philosophie.

Gleichzeitig entdeckt er, daß die "einfachsten Anschauungen und Gründe ... allein die wahren Anschauungen und Gründe" sind(57). Das ist ihm, wie er rückblickend selbst andeutet, beim Thema Religion zuerst aufgegangen. Offenbar war ihm irgendwann die bloße Polemik gegen den "Geist der Theologie" nicht mehr genug, er begann, über eine genetische Kritik der Religion nachzusinnen, d.h. sich zu fragen, wie denn das Phänomen Religion überhaupt entstehe. Das Ergebnis war seine berühmteste aufklärerische Leistung: Er entmystifizierte die religiösen Vorstellungen, indem er sie als Verabsolutierungen menschlicher Eigenschaften erklärte. Bekanntlich hat ihn diese Arbeit am Thema Religion schließlich zum Humanisten und entschiedenen Idealismuskritiker werden lassen. Er erkannte, daß dieselbe Erklärung auch auf den idealistischen absoluten Geist anzuwenden sei: Auch dieser absolute Geist sei nichts anderes als eine Verabsolutierung eines menschlichen Vermögens – des Vermögens der Theoriebildung.

Eigenartig also die Logik des Lehrstücks: Das Philosophieren ohne aufklärerisches Engagement erweist sich als steril, führt nur immer in weitere Sackgassen. Die aufklärerische Polemik führt zwar momentan aus der Sackgasse heraus, doch erst, als sie das Poltern sein läßt: Nun erst öffnet sie den Weg für philosophische Einsichten, die neu und fruchtbar sind.


[Referat gehalten in Neudettelsau am 29. Mai 1999]

Anmerkungen:

(1) Nachwort in: Ludwig Feuerbach, Kleinere Schriften. Frankfurt/M 1966, S. 249.

(2) "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", in: Karl Marx und Friedrich Engels, Studienausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Iring Fetscher, Fischer Bücherei, Frankfurt 1966, Band I, S. 190.

(3) Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza. Gesammelte Werke, herausgegeben von Werner Schuffenhauer, Band 2, Berlin 1969.

(4) Ebenda, S. 23.

(5) Ebenda, S. 23 ff.

(6) Friedrich Wilhelm Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, Stuttgart 1955, S. 133.

(7) "Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae", in: Gesammelte Werke, Band 10, S.155 f.

(8) Vgl. Hans-Martin Sass, Ludwig Feuerbach mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978, S.32,

(9) Vgl. Geschichte..., a.a.O., S. 294

(10) Ebenda, S. 362.

(11) Ebenda, S. 369 f.

(12) Gesammelte Werke, Band 9, S. 243. Feuerbach bemerkt hier sehr richtig, das Wort "Pantheismus" werde eigentlich unzulässigerweise für Spinozas oder Hegels Philosophie angewandt, da der Pantheismus ein Orientalismus sei.

(13) Vgl. den Brief an Bertha Löw, Feuerbachs spätere Ehefrau, vom 11.1.35.

(14) Brief an Roux, Mai 1837.

(15) Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie. Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1969.

(16) Ebenda, S. 160 und 170.

(17) Ebenda, S. 65.

(18) Ebenda, S. 287-293.

(19) Ebenda, S. 163 f.

(20) in: Ludwig Feuerbach, Anthropologischer Materialismus, Band 1, hg. und eingeleitet von Alfred Schmidt, Frankfurt und Wien 1967, S. 24.

(21) Leibniz, a.a.O., S. 215.

(22) Ebenda, S. 144 und 145.

(23) Gesammelte Werke, Band 8, S. 143.

(24) Ebenda, S. 137.

(25) Ebenda, S. 139 und 140.

(26) Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit. Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1967.

(27) Ebenda, S. 5.

(28) Ebenda, S. 28.

(29) Ebenda, S. 22.

(30) Ebenda, S. 81.

(31) Ebenda, S. 86.

(32) Ebenda, S. 35.

(33) Ebenda, S. 37.

(34) Ebenda, S. 141 und 142.

(35) Ebenda, S. 140 f.

(36) Ebenda, S. 141, 142 und 143.

(37) Ebenda, S. 155.

(38) Ebenda, S. 163

(39) Ebenda, S. 148. In der Erstausgabe von 1838: »positiver Ertrag«.

(40) Ebenda.

(41) Vorwort zum ersten Band der Sämtlichen Werke, in Gesammelte Werke, Band 10, S. 185.

(42) Bayle, a.a.O., S. 340.

(43) Beide Zitate ebenda, S. 341.

(44) Beide Zitate: Gesammelte Werke, Band 8, S. 207.

(45) Brief an Ruge vom 8.5.1839.

(46) Gesammelte Werke, Band 9, S. 16.

(47) Ebenda, S. 22.

(48) Ebenda, S. 30.

(49) Ebenda, S. 46.

(50) Ebenda, S. 246.

(51) Ebenda, S. 266.

(52) Ebenda, S. 32.

(53) Ebenda, S. 32.

(54) Ebenda, S. 254.

(55) An Berta Löw, 12.1.1935.

(56) Gesammelte Werke, Band 8, S. 224.

(57) Ebenda, S. 207.



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